Der junge Jean Piaget reiste einst nach Paris, um bei den damals berühmten Intelligenzforschen Simon und Binet ein Praktikum zu absolvieren. Die beiden hatten gerade den ersten Intelligenztest entwickelt und suchten jemanden, der die eher langweilige Aufgabe übernahm, den neuen Test bei möglichst vielen Kindern auszuprobieren. Da kam der Praktikant Piaget gerade recht. Piaget tat, was man ihm aufgetragen hatte. Aber er interessierte sich mehr und mehr für die Fehler, die den Kindern beim Lösen der Intelligenzaufgaben unterliefen. Er ließ sich ausführlich erklären, was sich die Kinder bei ihren Fehlern gedacht hatten. Er notierte sich alles sorgfältig – der Grundstein für eines seiner großen Werke, seine Theorie zur Entwicklung des menschlichen Denkens, war gelegt. Es gibt viele Gründe dafür, warum wir aus Fehlern besonders viel lernen können:

  1. Kinder denken sich etwas, wenn sie Fehler machen. Das gilt in besonderer Weise für die Analyse von Rechenfehlern. Rechenfehler sind fast immer Denkfehler. Die fehlerhaften Denkprozesse sieht man der falschen Lösung jedoch nicht an, sondern der Lehrer erkennt sie nur, wenn er sich von den Kindern, wie Piaget, ihre Lösungswege erklären lässt. Oftmals sind die Überlegungen, die zu den falschen Lösungen führen, gar nicht dumm. Manchmal machen Schüler sogar Fehler, weil sie an einer Stelle denken, wo es gar nichts zu denken gibt; zum Beispiel beim Rechtschreiben. Nicht alle Rechtschreibfehler lassen sich vermeiden, indem man eine Regel beachtet. Oft wird die richtige Schreibweise lediglich durch eine Konvention bestimmt. Die korrekte Schreibweise wurde einfach irgendwann einmal festgelegt. Man hätte genauso gut eine andere Festlegung treffen könne. Wird dies den Schülern nicht ausdrücklich gesagt, suchen sie bei solchen Rechtschreibfällen nach nicht vorhandenen Regelhaftigkeiten, nach nichtexistierenden logischen Zusammenhängen. Dieses durchaus kluge Vorgehen führt sie jedoch hier nur weiter und tiefer in die Irre.
  2. Der Fehler verweist auf das Fehlende, lehrt uns der berühmte Schweizer Heilpädagoge Paul Moor. Der Fehler zeigt dem Lehrenden, was seine Schüler nicht oder noch nicht gelernt haben und was er ihnen demzufolge als Nächstes noch beibringen muss. Jeder sorgfältig geplante Unterricht und jede solide Therapie beginnt mit diagnostischen Überlegungen: Was macht das Kind richtig und was falsch? Wie kommt es zu den Fehlern? Welche Kompetenzen müsste das Kind erwerben, damit ihm diese Fehler nicht mehr unterlaufen? Mit Hilfe dieser Fragen entstehen individuell ausgerichtete Lern- oder Therapiepläne.
  3. Der Fehler zeigt natürlich auch dem Lernenden selbst, was er nicht oder noch nicht kann. Neugierde und Interesse werden geweckt, Fragen entstehen. So sehen es zumindest die alten Didaktiker. Bei ihnen kann man nachlesen, dass Lernmotivation in erster Linie dadurch entsteht, dass der Lehrende dem Lernenden aufzeigt, was er bereits alles kann und weiß, und was es für ihn noch interessantes Neues zu Lernen gibt, was er also noch nicht kann. Fehler sind aus dieser Perspektive willkommene Lernanlässe und bieten die selbstverständliche Möglichkeit, Neues zu lehren und zu lernen.

Die positiven Seiten des Fehlers lassen sich jedoch nicht nur didaktisch nutzen, sondern besitzen darüber hinaus auch eine pädagogische Bedeutung. Über die Beschäftigung mit den Schülerfehlern versteht der Lehrer seine Schüler immer besser. Er übernimmt ihre Perspektive, versetzt sich in ihre Situation, sieht die Aufgaben und Probleme mit ihren Augen. Werden die Schüler vom Lehrer angehalten, sich ebenfalls mit ihren Fehlern auseinanderzusetzen, verstehen sie sich selbst ebenfalls besser. Sie lernen ihre Stärken und Schwächen kennen. Sie erfahren, dass sich Anstrengung lohnt. Sie lernen, wie sie selbst am besten lernen und worauf sie bei sich achten müssen, um bestimmte Fehler zu vermeiden.  Eine realistische Selbsteinschätzung, ein angemessenes Selbstbild und Selbstwertgefühl können sich entwickeln.

Die „vergessenen Fehlerkunde“ empfiehlt deswegen als Königsweg zum fruchtbaren Umgang mit Fehlern die gemeinsame vom Lehrer angeleitete Auseinandersetzung der Schüler mit ihren Fehlern im Unterricht. Dies beinhaltet, dass Schüler in ihren eigenen Produkten und denen ihrer Mitschüler gründlich nach Fehlern suchen; sich vergewissern, was genau falsch ist und warum es falsch ist. Es gehören selbstverständlich auch Überlegungen dazu, wie die richtige Lösung lautet und wie die Fehler künftig vermieden werden können. Und dies geschieht möglichst bei jedem auftretenden Fehler. Im Klassenzimmer herrscht „null Toleranz“ für Fehler. Kein Fehler wird bewusst übersehen oder vernachlässigt und einfach hingenommen. Jeder Fehler wird ernstgenommen und als Lernanlass geschätzt. Der Fehler ist allgegenwärtig im Unterricht und nimmt einen großen Raum ein. Kein Fehler gibt bei einer solchen Fehlerkultur jedoch Anlass, Schüler auszulachen oder für dumm zu erklären.