Eine außergewöhnlich fundierte Studie zeigt, dass die größten Bildungsunterschiede zwischen deutschen Kindern schon lange vor der Einschulung bestehen. Die Ergebnisse befördern lieb gewonnene bildungspolitische Überzeugungen ins Reich der Illusionen. 

Die Studie trägt den Titel „Socioeconomic Inequality in Children’s Achievement from Infancy to Adolescence: The Case of Germany“. Sie stammt von den Soziologen Jan Skopek und Giampiero Passaretta und ist 2020 in einer internationalen Zeitschrift für Sozialwissenschaften mit Namen „Social Forces“ erschienen. Die beiden Wissenschaftler arbeiten zur Zeit am Trinity College in Dublin; er als Assistant Professor und sie als seine postgraduierte wissenschaftliche Mitarbeiterin. In dieser Studie fragen sie, ab wann die familiäre Herkunft eines Kindes in Deutschland seine Leistung bestimmt und welche Rolle dabei die Schule spielt. Auf der Grundlage ihrer längsschnittlichen Datenanalyse kommen sie zu dem Schluss: Die familiäre Herkunft bestimmt die Leistung vom ersten Tag des Lebens an und die Schule spielt hierbei eine ziemlich geringe Rolle. 

Beide Antworten sind ein Schlag ins Kontor der deutschen Bildungspolitik. Ging man doch bisher wie selbstverständlich davon aus, dass die vorschulische Zeit bildungspolitisch eine eher unschuldig-unbelastete sei, in der die Entwicklung der Kinder spielerisch, ganzheitlich und quasi en passant gefördert wird. Man warnte vor karriere- und leistungsgeilen Eltern, die angeblich eine Verschulung des Kindergartens forderten. Die Schule dagegen war spätestens seit PISA als Ursache für die milieubedingten Lern- und Leistungsunterschiede unserer Kinder und Jugendlichen ausgemacht. Deutschland zählt zu den ganz wenigen Industrieländern, in denen die schulischen Leistungen extrem stark vom Elternhaus abhängen. Bisher lautete das Narrativ: :Am Anfang kommen alle gleich in die Grundschule, dann geht die „Herkunftsschere“ auf, und am Ende schaffen es vor allem die Söhne und Töchter der Privilegierten auf die Universität. Die Zahlen der entsprechenden Statistiken sprechen eine eindeutige Sprache: von 100 Akademikerkindern studieren 79, wohingegen das bei Kindern mit nichtakademisch gebildeten Eltern nur 27 von 100 gelingt.

Abb.1: Entwicklung der Kinder von Eltern mit unterschiedlichem Bildungsniveau 
(Aus: Skopek, J. & Passaretta, G.: The Social Stratification of Skills from Infancy to Adolescence – Evidence from an Accelerated Longitudinal Design. https://osf.io/preprints/socarxiv/xkctv/ aufgerufen am 5.7.2021)
Composite score = Entwicklungsindex, Age = Alter in Jahren
Preschool = Kindergarten/Vorschule, Primary = Grundschule, Lower secondary = Unter-/Mittelstufe
Low = niedrigeres Bildungsniveau der Eltern (Hauptschulabschluss mit Berufsausbildung)
Medium = mittleres Bildungsniveau der Eltern (Realschulabschluss/Abitur mit Berufsausbildung)
High = höheres Bildungsniveau der Eltern (Hochschulabschluss)

Bereits kurz nach der Geburt – so zeigen die in Abb.1 dargestellten Daten von Skopek und Passaretta -, können die Kinder abhängig vom sozialen Status der Eltern unterschiedlich viel. Bis die Kinder eingeschult werden vergrößert sich stetig die Lern- und Leistungskluft zwischen den Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft. Am Ende des ersten Schuljahres stoppt dann überraschenderweise dieser Trend und das Leistungsvermögen entwickelt sich fast auf gleichem Abstandsniveau weiter bis ins Jugendalter. Der Milieuvorteil eines Kindes aus privilegiertem Hause macht sich demnach vor allem in den ersten sechs Lebensjahren vor dem Schulbesuch bemerkbar. Wer gegen diesen Trend angehen und etwas für Bildungsgerechtigkeit tun möchte, muss also vor allem die Kindergartenzeit nutzen. Wenn die Kinder eingeschult werden, so die ernüchternde Botschaft der Wissenschaftler, „ist die Messe weitgehend gelesen“ (Spiewak 2021). Zwar streben die beiden Leistungskurven auch noch nach der Einschulung leicht auseinander, aber die Herkunftsunterschiede bestehen zu zwei Dritteln bereits vorher. Der Ruf der deutschen Schule als reine Selektionseinrichtung scheint nach Meinung der Autoren deshalb nicht gerechtfertigt.

Allen Wissenschaftsskeptikern, Statistikzweiflern und Methodenkritikern sei gesagt, bei der vorliegenden Studie beißen sie auf Forschungsgranit. Die oben dargestellten Graphen entspringen nämlich einer soliden Längsschnittstudie. Hier wurden nicht, wie aus Zeit- und Finanzierungsgründen sonst oft üblich zwei unterschiedliche Gruppen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten untersucht (sogenannte Querschnittuntersuchungen) und dann die Daten zueinander in Beziehung gesetzt, sondern es wurden mehrere Kohorten über viele Jahre hinweg verfolgt. 

Die Forscher verdanken diese Daten dem am Bamberger Leibniz-Institut für Bildungsverläufe beheimateten Nationalen Bildungspanel (NEPS), einem Wissenschaftsinstrument, in dem seit 2009 rund 60.000 Personen in unterschiedlichen Kohorten regelmäßig zu ihren Bildungsbiographien befragt wurden. Gespeichert werden Daten aus Kompetenztests, Schulnoten, Schülerbefragungen zu deren Interessenlage usw. Auch das Umfeld der Schüler bestehend aus Eltern, Lehrern und Schulleitern wird einbezogen. Im Säuglings- und Kleinkindalter interessieren sich die Wissenschaftler für das Spielen der Eltern mit den Kindern, für den Wortschatz der Kinder, ihren Umgang mit Zahlen sowie den Kindergartenbesuch. Dieses Panel beeindruckt also nicht nur durch die enorme Menge an repräsentativ erhobenen Daten, sondern es bildet auch den Bildungsverlauf Tausender Deutscher verlässlich ab, da über die Jahre hinweg immer wieder dieselben Personen befragt werden. 

Auf Grundlage dieser Längsschnittdaten können Skopek und Passaretta nun mit Recht behaupten, dass die Schule selbst an der viel beklagten Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems den geringsten Anteil hat. Im Gegenteil hält sie die Schüler beieinander und verhindert, dass die Herkunftskluft weiter aufgeht. Ihr gelingt dies durch ein standardisiertes Lernmilieu. Anders als in den Familien haben alle Kinder dieselbe Lehrkraft, denselben Lehrplan, lernen in derselben Zeit, mit denselben Arbeits- und Lernmaterialien und werden nach denselben Maßstäben beurteilt. 

Die verpönte Homogenisierung der Lernbedingungen und des Lernangebotes verhindert zumindest eine Vergrößerung der herkunftsbedingten Unterschiede. Die hochgelobte Individualisierung gleicht zwar vorhandene Schwächen lernschwacher Kinder besser aus, potenziert aber auch in hohem Maße die Stärken der Privilegierten. Der Abstand zwischen beiden Gruppen wird also vergrößert, die Leistungslinien driften weiter auseinander.

Eine Reihe von Studien über unterschiedliche familiäre Milieus und ihre Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung stützen die Ergebnisse von Skopek und Passaretta. Der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller fasst diese Befunde zusammen und stellt fest, dass wir einfach zu viele Kinder zu früh verlieren. Bildungspolitik müsste, will sie effektiv sein und Bildungsgerechtigkeit herstellen, dort ansetzen, wo die Herkunftsschere auseinandergeht; nämlich in den ersten sechs Lebensjahren, in den Familien und vorschulischen Einrichtungen. Die besten Kitas mit kleinen Gruppen, kompetentem Personal und einer hervorragenden Sprachförderung müssten dort sein, wo bildungsferne Familien leben. Bisher ist genau das Gegenteil der Fall. Dem Bildungsbürgertum, der deutschsstämmigen Mittelschicht stehen die besten Kitas zur Verfügung, wie das einschlägige Studien belegen (z.B. Nubbek-Studie).

Auch die Dauer des Kita-Besuchs spielt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Erst nach einer mindestens zweijährigen außerfamiliären vorschulischen Betreuung machen sich Fördereffekte bemerkbar, so die aktuelle Studienlage. Ein Blick in die nordischen Nachbarländer zeigt, was möglich und notwendig wäre: Kita-Pflicht, flächendeckendes Elterncoaching, Familienhebammen, Erziehungskurse, hoch qualifizierte BetreuerInnen (Hochschulausbildung???) …

Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit wünschen sich laut Allensbacher Institut 90 Prozent der Deutschen. Wenn es nicht nur bei diesem frommen Wunsch bleiben soll, muss wohl die vorschulische Bildung und Erziehung ins Zentrum bildungspolitischer und pädagogischer Anstrengungen gerückt werden.  

Literatur:

Spiewak, M. (2021): Ungerecht von Anfang an. Die Zeit, 24/2021

Skopek, J. & Passaretta, G. (2020): Socioeconomic inequality in children’s achievement from infancy to adolescence: The case of Germany, Social Forces, Journal Article DOI

Passaretta, G. & Skopek, J. (2021): Does schooling decrease socioeconomic inequality in early achievement? A differential exposure approach. American Sociological Review (zur Veröffentlichung angenommen)

Skopek, J. & Passaretta, G. (2021):  The Social Stratification of Skills from Infancy to Adolescence – Evidence from an Accelerated Longitudinal Design. (https://osf.io/preprints/socarxiv/xkctv/; abgerufen am 5.7.2021)