Wird ein Kind selbständiger, wenn man es „ausbaden“ lässt, die Hausaufgaben nicht gemacht zu haben? Ein kurzer Briefwechsel zu dieser Frage:

 

Notiz von mir an eine Mutter:

„Ihr Kind hat die letzten vier Hausaufgaben nicht erledigt. Bitte arbeiten Sie mit ihm nach und achten Sie in Zukunft auf regelmäßige Erledigung. Vielen Dank!“

 

Antwort der Mutter:

„Wir möchten unser Kind zur Selbständigkeit erziehen. Wir erinnern es daran, dass es Hausaufgaben auf hat. Wenn es keine Lust hat, sie zu erledigen, muss es eben ohne Hausaufgaben in den Unterricht gehen und die Konsequenzen selber tragen.“

 

Antwort von mir an die Mutter:

„Ich verstehe Ihre Überlegung, aber sie ist erzieherisch nicht weise. So lernt Ihr Kind nur, lustbasiert zu leben: Wenn es keine Lust hat, arbeitet es nicht – wenn die Unlust durch die Konsequenzen zu groß ist, arbeitet es, um diese Unlust zu vermeiden. Selbstverantwortung entsteht so nicht, auch kein Pflichtbewusstsein.

Sie erwarten offenbar, dass ich Ihr Kind bestrafe, weil es keine Hausaufgaben gemacht hat. Das sollen die Konsequenzen sein. Ihr Kind ist aber gerade erst sechs Jahre alt geworden. Es wäre erzieherisch nicht sinnvoll, es für diesen Fehler zu bestrafen, obwohl das eigentlich Fehlende (nämliche die Zuverlässigkeit) in der Erziehung erst noch aufgebaut werden muss. Wäre Ihr Kind 16 und bist dahin zur Zuverlässigkeit erzogen, wäre es anders. Aber in diesem Fall besteht die erzieherische Aufgabe darin, das fehlende Pflichtbewusstsein aufzubauen – und das ist in erster Linie Ihre Aufgabe, nicht die Ihres Kindes. Aufgabe Ihres Kindes ist nur, Ihnen zu gehorchen; und selbst das ist wiederum etwas, was Sie als Eltern sicherstellen müssen. Eine Strafe träfe in diesem Fall den Falschen. Ich kann Ihr Kind in der Stunde nacharbeiten lassen – aber dann verpasst es den weiteren Unterricht, und ich habe im Unterricht meinen Job zu machen, so wie Sie zu Hause den Ihren.

Sie müssen sich die Mühe machen, von Ihrem Kind Gehorsam zu fordern, obwohl das Kind keine Lust hat, und freundlich aber bestimmt, mit sanftmütiger Härte das Notwendige dann auch durchsetzen. Selbständigkeit bedeutet, sich selbst das Richtige, Vernünftige, Gute zu befehlen und sich selbst trotz Unlust darin zu gehorchen. Das lernt man nur, wenn man lange Zeit erst einmal anderen gehorchen darf. Das ist für Kinder eine Entlastung von unangemessener Verantwortung. Dadurch schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, langfristig tiefere Freude an Lernthemen zu finden, anstatt nur oberflächlich darauf zu reagieren, welche Antriebe Unterricht oder Medien ansprechen. Tägliche Pflichten erfordern feste Gewohnheiten. Die kann kein Kind von alleine aufbauen, dieser Aufbau ist eine wesentliche erzieherische Pflicht.

Wenn Sie sich diese Mühe nicht machen möchten, kann ich das nicht ändern. Aber Ihr Kind wird dann langfristig nur über Drohungen und Abschreckungen sowie immer größere Belohnungen zu führen sein und nicht lernen, das Richtige zu wollen, einfach weil es das Richtige ist. Es wird dann auch keinen Sinn in der Arbeit finden. Als ich heute Ihr Kind fragte, warum man eigentlich Hausaufgaben macht, antwortete es: „Ja, das weiß ich auch nicht!“. An Arbeit und Pflichtbewusstsein gewöhnte Kinder antworten: „Weil man etwas lernt“, oder „Weil es schön ist“, oder „Weil der Lehrer es sagt“. Bitte, ermöglichen Sie Ihrem Kind, einen Zugang zur Arbeit jenseits von reinen Lust- und Unlustprinzipien zu finden. Mit herzlichen Grüßen…“

(anonymisiert und leicht editiert)