Heute geht es um eine weitere Lieblingsidee der Inklusionsbefürworter: Jegliche Bewertung kindlicher Leistungen wird abgelehnt. Kindliches Verhalten darf nach ihrer Vorstellung nicht mehr mit mit Normen oder Standards verglichen werden. Diese Idee ist eng mit dem Konzept der Dekategorisierung verbunden, von dem der 3. Teil dieser Reihe handelte. Der inklusive Unterricht soll die vermeintlich leidenden Kinder aus den „Fesseln“ der Normalitätsvorstellungen befreien, damit sie sich „angstfrei“ und unbelastet von schmerzhafter Konkurrenz entfalten mögen (vgl. Ahrbeck 2011). Diagnostik, Leistungsmessungen in der Schule, Bildungsstandards, all dies führe zu Diskriminierung, Kränkung und Beschämung. Erst wenn vergleichende Maßstäbe zurückgedrängt würden, gelange Humanität ins Klassenzimmer. Als zulässig gelten lediglich Prozessbeschreibungen und Prozessanalysen, die sich auf die individuelle Entwicklung einzelner Person beziehen. Soweit die Vorstellung eines neuen, „inklusiven“ Bildungswesens.

Aus nüchtern psychologischer Sicht ist Psychodiagnostik keine Fessel und keine Peitsche, sondern (z.B. wie bei Amelang und Schmidt-Atzert (2006) definiert) eine Methodenlehre innerhalb der Angewandten Psychologie. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, interindividuelle Unterschiede im Verhalten und Erleben sowie intraindividuelle Merkmale und Veränderungen einschließlich ihrer relevanten Bedingungen zu erfassen. Sie dient also dazu, Unterschiede zwischen mehreren Kindern und neue Entwicklungen beim einzelnen Kind zu beschreiben. Um dieser Aufgabe nachzukommen, braucht die Psychodiagnostik Vergleichsmaßstäbe oder Normen. Verhaltensbeobachtungen, Prozessbeschreibungen oder anders erhobene individuelle Daten werden erst durch das Einordnen in ein Bezugssystem diagnostisch aussagekräftig und damit zu diagnostischen Informationen.
Inklusionsbefürworter behaupten, eine optimale Förderung sei ohne äußere Zielvorgaben möglich. Auch an Entwicklungstheorien (zur Entwicklung des Lesenlernens, des rechnerischen Denkens etc.) dürfe man sich nicht orientieren, da diese Theorien (selbstverständlich) ebenfalls ein normatives Gerüst enthalten. Diese Forderungen werfen nicht nur für Ahrbeck (2011) eine Reihe von Fragen auf:

  • „Worauf soll sich eine Bewertung stützen, die sich ausschließlich am Individuum orientiert?
  • Wer beantwortet die Frage, was jemand erreichen kann?
  • Was sind sinnlose Anforderungen und worauf muss aus gutem Grund verzichtet werden?
  • Was ist über- oder was unterfordernd? …
  • Wie ergeben sich förderungswürdige Lern- und Entwicklungsprobleme, auf die Lehrkräfte z.B. mit zusätzlichem Lernangebot reagieren sollen, …?
  • Wie kann eine Entwicklung als problematisch und in besonderer Weise unterstützungswürdig angesehen werden, wenn nicht doch irgendwo eine wie auch immer geartete Vorstellung von Normalentwicklung existiert?“ (Ahrbeck 2011, S. 79f).

Die Antwort muss eigentlich sein: Das kann man nicht ohne Maßstäbe beantworten. Deshalb bleiben die Inklusionsbefürworter Antworten auf solche Fragen auch schuldig – und erklären die Fragen an sich für falsch und überflüssig. Aber sind sie das wirklich?

Ebenso schwer nachvollziehbar ist die „inklusive“ Behauptung, Diagnostik, also das Vergleichen mit externen Maßstäben, führe zwangsläufig und immer zur Diskriminierung der Beurteilten. Diskriminierungen entstehen durch das Verhalten der Menschen und nicht durch Diagnosen oder Normen. Manchen Menschen benutzen Diagnosen und Normen zur Diskriminierung und dies lässt sich nicht aus der Welt schaffen, indem man der Illusion nachhängt, Bildung und Erziehung sei ohne Wertmaßstäbe denkbar. So langsam scheint dieser Gedanke auch innerhalb der inklusiven Pädagogik wieder hoffähig zu sein. Werden die universellen Menschenrechte anerkannt und beachtet und die Leistungsentwicklung eines Kindes als individuelles Geschehen betrachtet, so könne ergänzend dazu auch die „Perspektive des Leistungsvergleichs mit anderen ins Spiel kommen“ (Prengel 2013, S. 53).

Es sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass Vergleiche des eigenen Verhaltens mit dem Anderer unbedingt erforderlich sind. Wir brauchen sie, um Orientierung gebende Verhaltensstandards zu entwickeln. Die wiederum sind unverzichtbar für die Entwicklung von Selbstbild, Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit und Leistungsmotivation – und genau deshalb vergleichen sich Kinder ungeachtet aller Inklusionsrhetorik andauernd unaufgefordert mit uns und anderen.

 

Dies ist der 4. Artikel aus unserer Reihe „Inklusive Diagnostik“. Sie finden alle Artikel der Reihe unter diesem Schlagwort.

 

 

Weiterführende Literatur: