Hilft es leseschwachen Schülern, gleichzeitig ein Hörbuch zu hören, während sie den Text selbst mitlesen? Dieser Frage geht Jürgen Walter, Professor für die Sonderpädagogik des Lernens an der Europa-Universität Flensburg in einem 2017 erschienen Artikel nach. Er stellt „Reading-While-Listening“ als Methode zur Förderung der Leseflüssigkeit vor und berichtet von zwei eigenen Pilotstudien zur Wirksamkeit.

Mit Reading-While-Listening ist das simultane Lesen und Hören eines Textes gemeint. Der Schüler liest den Text halblaut, während gleichzeitig derselbe Text von einem Lesemodell vorgelesen wird. Diese neue Methode erinnert an das früher häufig im Unterricht geübte gemeinsame laute Lesen einer ganzen Klasse, das sogenannte chorische Lesen. Vor allem im englischsprachigen Raum, so der Autor, wurde schon ab den 1970er Jahren der Vorleser durch technische Hilfsmittel wie Kopfhörer und Hörbücher ersetzt. Die bisher vorgelegten Wirksamkeitsstudien seien methodisch problematisch, die Ergebnisse jedoch durchaus vielversprechend. Weiterhin zeige die internationale Befundlage, dass lautes und wiederholtes Lesen dem Viellesen in puncto Förderung der Lesegeschwindigkeit überlegen sei.

Im deutschsprachigen Raum wurden diese Konzepte im Rahmen des „Lüneburger Modells“ unter der Bezeichnung „Lesen durch Hören“ aufgegriffen. Das Lesen mit Hörbüchern ließ sich gut in den Unterricht einpassen und stieß bei den leseschwachen Jugendlichen auf hohe Akzeptanz. Aber auch in dieser Studie sei aufgrund erheblicher methodischen Mängel (z.B. kein Kontrollgruppendesign) keine gesicherte Aussage über die Wirksamkeit zulässig. Es bleibe weiterhin völlig offen, ob sich die Lesestrategien allein aufgrund der Förderung änderten und ob ein Transfer auf fremde Texte erfolge.

Deshalb führt Walter zwei aufwändige und methodisch saubere Pilotstudien mit Grundschülern durch, die einerseits die Effektivität eines selbstentwickelten Förderprogramms und andererseits den Transfer auf ungeübte Texte prüfen.

Das Trainingsprogramm besteht aus drei Phasen. In der zweistündigen Einführung wird den Schülern das Training vorgestellt und die Arbeit mit dem Hörbuch geübt. Die Schüler lernen, vier wichtige Regeln zu beachten:

– Ich benutze den Finger als Lesehilfe.

– Ich bleibe bei meinem Text, bleibe an meinem Platz und behalte die Kopfhörer auf.

– Ich lese den Texthalblaut mit.

– Ich lese den Text fünfmal (bzw. dreimal) hintereinander.

In der anschließenden 17stündigen Durchführungsphase werden 19 Texte aus vier verschiedenen Büchern der „Leselöwen – Das Original“ nach den vorgegebenen Regeln geübt. Ergänzend wird in jeder zweiten Sitzung die Leseleistung mit der Lernfortschrittsdiagnostik Lesen gemessen und das Ergebnis den Schülern sofort zurückgemeldet.  Nach jedem korrekt geübten Text erhalten die Schüler als Belohnung einen Stempel in ihr Stempelheft. Eine bestimmte Anzahl von Stempeln kann gegen Süßigkeiten eingetauscht werden.

Die Abschluss- und Reflexionsphase dauert eine Stunde, in der das Programm ein letztes Mal durchgeführt und gemeinsam über seine Brauchbarkeit nachgedacht wird.

Manuale für beide Trainingsstudien mit detaillierten Durchführungsanleitungen können hier aus dem Internet bezogen werden.

 

Die Ergebnisse beider Pilotstudien zeigen, dass das Arbeiten mit Hörbüchern unter bestimmten Bedingungen vor allem bei leseschwachen Schülern zu einer signifikanten Verbesserung der Lesekompetenz führt. Die Schüler selbst beurteilen das Training als motivierend und lehrreich. Beachtenswert erscheinen dem Autor beim Einsatz des Trainings besonders folgende Aspekte:

– Eine zu hohe Vorlesegeschwindigkeit kann bei sehr leseschwachen Schülern leicht zu Frustration und Motivationsverlust führen. Aber mit Hilfe der Stopp- und Rücklaufteste können die Schüler ihr eigenes Lesen immer wieder mit dem des Vorlesers synchronisieren. Hier wäre anzumerken, dass der Audible-Dienst von amazon mittlerweile technisch so weit forgeschritten ist, dass man dort in der App die Geschwindigkeit der Hörbücher in sehr kleinen Schritten von 0,05 beliebig drosseln oder auch steigern kann. Das Standardtempo ist 1,00; die Skala reicht von 0,50 bis 3,00. Ein Zurückspulen entfällt somit.

– Durch eine individuell angepasste Textauswahl und durch die Spannung erzeugenden fortlaufenden Geschichten kann eine erhöhte Motivation erreicht werden. Dabei sollte jedoch immer sichergestellt werden, dass das wiederholende Lesen nicht zu kurz kommt.

 

Wie erklären die Autoren die Wirksamkeit dieser Methode?

Flüssigeres Lesen alleine bringt noch kein besseres Leseverständnis mit sich. Es entlastet jedoch unser von der Speicherkapazität her begrenztes Arbeitsgedächtnis und erleichtert damit die kognitive Verarbeitung des Gelesenen. Wissen aus dem Langzeitgedächtnis kann beispielsweise schneller abgerufen, Zusammenhänge leichter hergestellt und Schlussfolgerungen sicherer gezogen werden. Auf diesem Weg verbessert sich letztendlich dann auch das Leseverständnis. Auch der Vorleser des Hörbuchs unterstützt den Lernprozess auf einer kognitiv niedrigeren Verarbeitungsebene (z.B. Aufmerksamkeitssteuerung, Arbeitsgedächtnis), spart dort kognitive Ressourcen ein, die dann auf der hierarchiehöheren Ebene der Sprachverarbeitung zur Verfügung stehen. Leseschwachen Schülern gelingt damit die Sinnentnahme des Gelesenen leichter und sie können Erfahrungen des Leseverstehens machen, die ihnen sonst verwehrt blieben. Solche Erfolgserlebnisse, die sich auch im anschließenden Alleinlesen einstellen, wirken sich positiv auf das Leseselbstkonzept aus. Leseschwache Schüler empfinden möglicherweise weniger Unsicherheit und Scham gegenüber dem Vorleser des Hörbuchs als beim lauten Lesen mit Lehrern, Eltern oder Mitschülern. Dies wirkt sich ebenso motivationsfördernd aus wie die Möglichkeit, Schülern mit Leseschwierigkeiten das Lesen einer alters- und sprachniveauangemessenen Lektüre zu ermöglichen, was ihnen alleinlesend nicht möglich wäre. Zusätzlich könnte das wiederholente Lesen das schnelle phonologische Kodieren trainieren und damit auch die Automatisierung der Worterkennung unterstützen.

Dieser Cocktail der unterschiedlichsten Erklärungsansätze offenbart die schwache theoretische Fundierung der Studie und rechtfertigt auch den Begriff Pilotstudie. Das Förderkonzept besteht aus einer theoretisch nicht begründeten Methodenkombination, die einen Rückschluss auf mögliche Wirkfaktoren unmöglich macht. Langer Rede kurzer Sinn: Das vorliegende Trainingskonzept scheint wirksam zu sein, aber niemand kann sich derzeit erklären warum und welcher Teil aus dem Methodenmix in welchem Ausmaß für den Fördererfolge verantwortlich gemacht werden kann. Ist es das gleichzeitige Hören und halblaute Lesen, sind es die sofortigen Rückmeldungen über den Lernerfolg, liegt es am Einsatz des Zeigefingers oder am Ende nur an der regelmäßigen Belohnung und Verstärkung? Braucht es alle Komponenten des Förderkonzeptes  oder könnte man auf die eine oder andere auch gerne verzichten? Würde sich der Fördererffekt vielleicht sogar vergrößern, wenn nicht alle Methoden kombiniert würden? Fragen über Fragen, die zu weiterer Forschung und zum Sammeln erhellender Erfahrungen in der Förderpraxis aufrufen. Eine interessante Idee, ein leicht in die Praxis zu integrierendes Vorgehen, aber leider noch weit entfernt von einem ausgereiften und gut fundierten Förder- oder Therapiekonzept.

 

Walter, J. (2017): Effektivität der Förderung der Leseflüssigkeit mithilfe vonHörbüchern bei Grundschülern: Zwei Pilotstudien. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 68, S. 104-123

Gailberger, S. (2011): Lesen durch Hören: Leseförderung in der Sek. I mit Hörbüchern und neuen Lesestrategien. Mit Kopiervorlagen und Hörbuch »Paranoid Park« auf CD-ROM. Weinheim: Beltz

Gailberger, S. (2013): Systematische Leseförderung für schwach lesende Schüler: Zur Wirkung von lektürebegleitenden Hörbüchern und Lesebewusstmachungsstrategien (Edition Erziehungswissenschaft). Weinheim: Beltz