Ist es ein Bastelkränzchen oder eine Gruppe für Unterrichtsvorbereitung? Man weiß es oft nicht, wenn Lehrerinnen auf Facebook stolz die Ergebnisse ihrer Mühen präsentieren. Es ist erschreckend, wie viele Lehrer bei der Frage nach einer tollen Idee für den Unterricht hauptsächlich an Spielchen, Äußerlichkeiten und Material basteln, Material downloaden und Material kopieren denken. Diese Hilfsmittel sollen wie von Zauberhand aus einer beliebigen Stunde guten Unterricht machen. Nicht die didaktisch und logisch optimale Aufbereitung des Themas steht im Vordergrund, sondern die hübsche Gestaltung oder der Spielwert des „Materials“. Das glauben Sie nicht? Dann lesen Sie den folgenden, wirklich ziemlich repräsentativen Strang von Posts aus einer Lehrergruppe auf Facebook:

 

 

Was sollen die Schüler in dieser Stunde lernen – etwas über das R, also wie man das große und kleine R schreibt, welche Klänge mit diesem Graphem wiedergegeben werden, welche Rechtschreibregeln im Zusammenhang mit dem R gelten? Oder sollen sie lernen, ein Bild zu malen, auszuschneiden, mit Rasierschaum herumzuschmieren (platter Sensualismus, aber das ist ein anderes Thema)? Das dauert leicht 20-30 Minuten, wenn jeder drankommen soll, und danach ist die Lehrkraft im „jetzt-ist-die-Stunde-eh-schon-fast-um“-Modus und die Aufmerksamkeit vieler Schüler verbraucht. Es ist außerdem eine Deutschstunde, keine Sportstunde und nicht Werken. Aber das macht nichts, ist ja alles irgendwie „fächerübergreifend“…

Anscheinend haben zahlreiche, besonders jüngere Lehrkräfte große Schwierigkeiten mit didaktisch fundierter Unterrichtsvorbereitung, betrachten sich aber dennoch als fleißige und gute Lehrerinnen. Fleißig sind sie ja auch, da sie Stunde um Stunde für Bastelarbeiten und Materialsuche aufwenden und stolz in ähnlichen Gruppen ihre Einfälle und Werkstücke präsentieren. Fragt man auf Fortbildungen oder an der Universität, wer die Grundformen des Lehrens nach Aebli nennen oder die zu lehrende Operation getrennt von der Methode beschreiben kann, blickt man in verständnislose Gesichter. Wie man „Material“ in die dropbox hochlädt, wissen die Teilnehmer hingegen garantiert, und dass sie dabei regelmäßig das Copyright missachten, halten sie für harmlos.

Harmlos ist jedoch diese ganze Entwicklung nicht. Die Verflachung der Didaktik führt zwangsläufig zu schlechtem Unterricht, zu viel verschwendeter Zeit und schlechten Gewohnheiten auf Seiten von Schülern und Lehrern. Kurz: Die Schüler lernen viel weniger, als sie lernen könnten, und statt Liebe zum Fach findet man bei ihnen bestenfalls Lust auf die effektvolle Darbietung – genau wie bei der Lehrkraft, die auf solche Weise arbeitet. Höchste Zeit, sich mit den Gründen, Ursachen und Folgen dieses Problems zu beschäftigen, denn meines Erachtens ist es ein ganz wesentlicher Teil der immer schlechter werdenden Bildung deutscher Schüler.

Gründe für die Materialschlacht – mangelndes Können, mangelnde Leidenschaft

Wer sein Fach liebt – und beherrscht -, ist unzufrieden mit Material, bei dem mehr Mühe auf die Optik als auf die didaktische Struktur verwendet wurde. Hans Aebli (der übrigens bei Jean Piaget promovierte) hat richtig erkannt: Ein gutes Übungsmaterial macht die unsichtbare Operation, und damit das zu Lernende sichtbar. Alles, was davon ablenkt, ist mit Vorsicht zu genießen und muss wohlüberlegt eingesetzt werden. Viele einkleidende, angeblich motivierende Geschichten oder graphisch gestylte Arbeitsblätter können gerade schwache Schüler auf die falsche Fährte setzen. Alle „Anschaungs“-Mittel, die gedankenlos und ohne Not Lerninhalte mit allen Sinnen erfahrbar machen, schaden mehr als sie nützen. Sie haben nichts im Unterricht verloren.

Gute Mittel zur Darstellung sind immer reduziert, so wenig wie nötig ist das Motto. Schließlich geht es doch darum, jede Unterrichtsstunde für das größtmögliche Maß an Erkenntnis und Übung zu nutzen. Da verliert der Rasierschaum und das Kneten sofort gegenüber dem Schreiben, die musikalisch untermalte Geschichte vom Bauern, seinem Acker und dessen Umfang bzw. Fläche gegen die Arbeit mit einem Pappwinkel und Karopapier.

Langweilig? Nein! Denn wer das Thema beherrscht, hat etwas zu sagen und kann andere dafür begeistern. Eine probate Lehrmethode ist hier oft der viel geschmähte Frontalunterricht. Noch langweiliger? Nein! Frontal ist nur langweilig, wenn man es nicht kann. Ein Lehrer, der geistige Klarheit schafft, Humor hat, gut reden kann und auf seine Schüler im Frontalunterricht in den genau richtigen Momenten mit der richtigen Frage erwischt, ist uns allen auch aus der eigenen Schulzeit als guter Lehrer in Erinnerung. Differenzierte Lernthekenarbeit hat andererseits bei älteren Schülern durchaus ihre Berechtigung, solange die Aufgaben sinnvoll gestaltet sind.

So oder so: Guter Unterricht – ob frontal oder anders – lebt von der Liebe zum Fach und von didaktischer sowie fachwissenschaftlicher Sachkenntnis.

  • Fehlende Liebe zum Fach bedeutet, man hat nichts zu sagen. Man hat keine Leidenschaft für das Thema, man ist nicht begeistert von der Schönheit und dem Wissen darin, man hat keinen Drang, etwas davon weiterzugeben. Auf diese Weise lässt sich niemand für etwas begeistern oder davon überzeugen, dass sich Lernen lohnt. Wem am Thema etwas liegt, der  sucht eher von sich aus die didaktisch optimale Form, und das ist meist nur die, die zum dem selbst vollzogenen Prozess der didaktischen Analyse, zu den eigenen Erkenntnissen über das Thema passt. Es kann manchmal empfehlenswert sein, ein Material  von jemand anderem zu übernehmen, der didaktische Aspekte bedacht hat, die man selbst übersehen hätte. Auch dann wird man jedenfalls die verfügbaren Materialien sehr kritisch und auf ihre didaktische Angemessenheit hin beurteilen und nicht danach gehen, ob etwas „lustig“, „putzig“, „bunt“ oder sonstwie aufgemotzt daher kommt. Wenn bei einem Material sachliche Angemessenheit, Schönheit und Humor zusammenkommen, wunderbar. Aber ohne diese Angemessenheit nützt die netteste Gestaltung nichts, und die Gestaltung muss ihr dienen, nicht über sie hinausgehen und zum Selbstzweck werden.
  • Fehlende Sachkenntnis: Wenn man den Stoff fachlich selbst nicht ausreichend beherrscht, hat man ebenfalls den Schülern nichts zu bieten, nichts zu sagen. „Beherrsche dein Thema, dann beherrscht du deine Rede“ ist eine alte, aber wahre Einsicht. – Wer die gründliche Analyse des Stoffs umgangen hat, weil sie altmodisch erscheint,  ist nicht in der Lage, etwa ein Tafelbild oder selbst konzipierte Erarbeitung und Übung zu gestalten, die in ihrer logischen Struktur der jeweiligen Operation angemessen ist. Man hat das Thema nicht von allen Seiten durchdacht, man gerät schnell ins Schlingern, wenn beispielsweise fachkundige Eltern kritisch nachfragen. Aufgrund mangelhafter Sachkompetenz sind die gestellten Aufgaben teils unlogisch, teils irreführend, und die Fehleranalyse ist erschwert, da die möglichen Missverständnisse nicht mitgedacht wurden. Die Wahl des Lernmaterials gehorcht eher sachfremden Kriterien, s.o.

Was sind die Ursachen für mangelnde Sachkenntnis und Leidenschaft?

  • Geringschätzung der vermeintlich zu „theoretischen“ Didaktik. Prof. Erwin Breitenbach meint dazu aus Universitätsperspektive: „Das betrifft besonders die universitäre Lehrerausbildung in den Fachdidaktiken. Dort wird der fachwissenschaftliche Teil mehr und mehr reduziert, weil angeblich unnötig, und der praktisch-didaktische verstärkt. In den meist von erfahrenen Lehrkräften durchgeführten Didaktikseminaren werden dann ganz konkrete Unterrichtsbeispiele
    vorgeführt, Arbeitsblätter gestaltet, motivierende Themeneinstiege erdacht usw. Die Studierenden sind begeistert und sehr zufrieden mit diesen Veranstaltungen. Endlich erfahren sie, „wie es geht“. Wenn sich das Studium der Didaktik darauf beschränkt, ist in der Folge das obige Beispiel aus entsprechenden Facebookgruppen nicht weiter verwunderlich.“
  • Hybris des modernen Zeitalters: Man vergisst heute gern, dass wir auf den Schultern von Riesen stehen und dass es einen großen Wert hat, die Gedanken größerer Geister überhaupt nur nachzuvollziehen. Erstrebenswert scheint nur die eigene Idee, weil sie die eigene ist. Auch, wenn diese Eigenleistungen am Ende, da ohne Fundament und Vorbildung, doch sehr kläglich ausfallen. Hans Aebli schilderte das bereits vor über 50 Jahren sehr treffend in seiner Dissertation. Die vermeintlich demokratische Auffassung, jede Idee sei gleich wertvoll, verhindert Respekt vor fachlicher Autorität und Freude an den Erkenntnissen von Menschen, die tiefer gedacht haben als wir selbst. Ergebnis? Siehe BER, 22jährige Studenten in Mamas Begleitung und Abituraufgaben auf Realschulniveau.

Welche sichtbaren Folgen hat der Wahn vom Zaubermaterial im Unterricht?

  • Arbeitsblätter anstelle von Heften: Die Folgen davon wiederum sind
    • psychomotorische Mängel, schlechte Handschrift durch eine viel zu geringe Schreib- und damit Trainingsmenge
    • Gewöhnung der Schüler an schlampiges Arbeiten und mangelnde Fähigkeit zur Arbeitseinteilung
    • Unkonzentriertheit: Wer jahrelang jeden Tag auf eine leere Seite einen Fließtext in schöner Form schreibt, erwirbt dabei eine viel größere Konzentrationsausdauer als jemand, der an den meisten Tagen nur Lücken ausfüllt oder einzelne Wörter, selten einmal Sätze schreibt. Außerdem sind die meisten Arbeitsblätter mit überflüssigen Illustrationen verunstaltet, die zusätzlich noch vom Wesentlichen ablenken.
    • Werkfreude entsteht nicht: Arbeitsblätter sind schon von anderen mehr oder weniger professionell gestaltet, leere Heftseiten hingegen reizen zum selbst gestalten. Um zu illustrieren, wie schön ein leeres Heft gestaltet werden kann, hier ein Beispiel von 1962, nach drei Monaten Schule (Vorweihnachtszeit erste Klasse) (ausführlicher Artikel zum Thema hier)

  • Unselbständigkeit: Arbeitsblätter gängeln Kinder und hindern sie daran, Platz selbst einzuteilen, Stoff selbst zu strukturieren etc.
  • Logische Strukturen werden schlechter durchschaut, weil die Grapheme, Ziffern und mathematischen Ausdrücke, die logische Strukturen darstellen, schon vorgegeben sind und wiederum nur Lücken gefüllt werden müssen. Wer eine Rechnung in vielen Formen schreibt und selbst Aufgaben mit Leerstellen erfindet (3 + 5 = 8, 8 = 5 + 3, 8 = 3 + 5, 3 + ? = 8…), läuft z.B. viel weniger Gefahr, das = als „dahinter muss das Ergebnis stehen“ aufzufassen.

 

  • Verkümmerte Heftführung, wo noch vorhanden: Es wird in Hefte geschrieben, aber die Eltern werden mit den absurdesten Lineaturwünschen gequält, weil die Kinder nicht mehr in der Lage sind, Abstände einzuhalten. In diese Hefte werden dann meist sowieso wieder Arbeitsblätter eingeklebt. Wird etwas geschrieben, sind die Schüler nicht in der Lage, einen Seitenkopf ordentlich zu gestalten (Datum rechts oben, eine Zeile frei, Überschrift mittig in Schreibschrift, zwei Zeilen frei etc.). Sie können das Geschriebene kaum systematisch platzieren (z.B. in Rechenheften immer vier Kästchen waagerecht zwischen zwei Aufgaben freilassen). Bei Übungsaufsätzen, die zweizeilig geschrieben werden sollen, um mehr Platz für Korrekturen zu lassen, markieren teils die Lehrkräfte persönlich jede zweite Zeile mit einem Bleistift-x, damit die Schüler wenigstens halbwegs daran denken, diese markierten Zeilen freizulassen. Und warum kam das so? Weil das Schreiben in Hefte als „spießig“ gilt, weil es ein didaktisch durchdachtes Tafelbild voraussetzt, und dieses wiederum eine klare Vorstellung von der angestrebten didaktischen Struktur auf Seiten der Lehrerinnen, oder weil es Schreibanlässe wie zum Beispiel ein Diktat voraussetzt, das selbst in sinnvollen Formen kaum noch verwendet wird.

 

  • Medienüberflutung in Freizeit und Schule: An den „Lerntheken“ und in gestalterischen „Classroom-Themes“ finden die Kinder keine ordnende Ruhe vor, sondern hier herrschen wie in der von Erwachsenen für Kinder gestalteten Freizeit Ablenkung und Reizüberflutung. Buchstaben werden nicht einfach mit höchstem Übungseffekt eine halbe Seite lang geschrieben, sondern sie werden in Sand gemalt, auf Filz gefühlt, gerochen, geknetet, in Karteien mit Folienstiften nachgefahren, mit riechenden Dingen auf Schablonen gelegt, getanzt, geklebt uvm. Dann wird bunter Sand als Bewertung der Gruppenarbeit in Gläser verteilt, Smileys geklebt, Kreuzchen gemacht. Hinterher…
    • beherrschen die Kinder die Buchstaben viel schlechter, als wenn sie sie in der gleichen Zeit ein ums andere Mal ins Heft geschrieben hätten.
    • sind die Schüler in ihrer kurzen und wechselhaften Aufmerksamkeitsspanne verstärkt und bestätigt worden. Sie mussten andauernd aufstehen, den Platz wechseln, die Konzentration unterbrechen, um ohne Not die Arbeitsform zu wechseln.
    • haben die Kinder wieder einmal gelernt, dass auch die Lehrkraft sich gerne vor dem langweiligen Üben drückt.

Zugleich gehen all diese Methoden mit einer großen Zeitverschwendung einher. Ähnlich dem ärztlichen Eid des Hippokrates sollten Lehrer die Selbstverpflichtung eingehen, die Zeit ihrer Schüler zu respektieren und auszukaufen. Dazu gehört es, nicht 20 Minuten auf einen spielerischen Unterrichtseinstieg zu verschwenden, der das Thema nur minimal weiterbringt. Klar, Spaß muss sein und das ein oder andere nette Extra lockert den Unterricht auf. Aber es sollte eben ein Extra sein, nicht Alltag. Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Das R besteht aus einem Strich nach unten, einem Bogen in der oberen Hälfte und einem schrägen Strich in der unteren. Das ist in einer Minute erklärt, denn der Begriff „Hälfte“ und die Fähigkeit, senkrechte, schräge und gebogene Linien zu zeichnen, müssen zu diesem Zeitpunkt schon erarbeitet sein. Für die „Einführung“ dieses Buchstabens braucht es kein Rollerrennen, keine Raketen und keinen Rasierschaum, sondern die Fähigkeit der Kinder, senkrechte Striche, Bögen und schräge Striche zu schreiben, einen Stift und ein liniertes Blatt Papier – und eine Lehrkraft, die weiß, dass nicht alles etwas besonders „Tolles“ sein muss, weil das Lernen von Schrift mit einer begeisterten Lehrkraft, die Sprache liebt, auch ein Geschenk ist. Die übrige Zeit verwendet man lieber, um die Kinder tatsächlich Wörter mit den verschiedenen R-Klängen finden bzw. ordnen zu lassen. Zur Zeitverschwendung haben wir kein Recht, wir schulden es den Kindern, aus jeder Unterrichtseinheit das Beste für sie herauszuholen.

Langfristig leistet schlechte Didaktik der Medikalisierung Vorschub, also der zunehmenden Einordnung von Kindern als „gestört“ oder krank. Denn wenn Lehrkräfte denken, sie hätten effektiv unterrichtet, aber zugleich bemerken, dass die Kinder am Ende weniger können als Schüler vor 40 Jahren, dann bleibt als Erklärung, es müsse wohl an den Kindern liegen. Ein Irrtum, wenn der schlechtere Unterricht (und in der Folge verschlechtertes häusliches Üben) eine Ursache von Lernrückständen ist. Auch so, nicht nur durch mehr diagnostische Möglichkeiten, kann man sich nämlich den Anstieg der Menge angeblich therapiebedürftiger Schüler erklären.