„Ist doch schön, dass Ihr Kind überhaupt liest, machen Sie nur keinen Druck!“ sagt die Grundschullehrerin am Elternabend. Ist es also falsch, eine Mindestgeschwindigkeit im Lesen erreichen zu wollen? Oder gibt es gute Gründe dafür? Und gibt es eine Geschwindigkeit, mit der man „auf der sicheren Seite ist“? Ja, die gibt es! Sie liegt aus gutem Grund bei etwa 150 Wörtern pro Minute – das verrate ich schonmal als Fazit des heutigen Posts. Diese Grenze ist das Ticket in eine genussvolle Reise durch die Welt der Kinderliteratur. Aber warum hört man in deutschen Schulen so wenig davon?

Haben Sie eine Lehrkraft schon einmal sagen hören: „Meine Schüler sollen am Ende der 4. Klasse mindestens 130 Wörter pro Minute lesen können, das überprüfe ich kontinuierlich und arbeite darauf hin. Hier ist Ihr Trainingsplan, bitte messen Sie zu Hause alle zwei Wochen die Lesegeschwindigkeit.“ Nein? Das ist kein Wunder. Pädagogen legen sich nicht gerne fest, und es fehlt ihnen oft am nötigen Hintergrundwissen. Schade nur, wenn dann als Reaktion auf die langsam manifest werdende Leseschwäche lediglich der Gang zum Schulpsychologen zwecks Notenbefreiung angeraten wird…

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Dabei ist die Frage „Wie schnell sollte ein Kind lesen – besonders ein Grundschüler?“ gar nicht so schwer zu beantworten. Weitestgehende Einigkeit (vgl. Texte lesen. Lesekompetenz, Textverstehen, Lesedidaktik, Lesesozialisation) herrscht unter Fachleuten in einem wichtigen Wert: der Schwelle von 150 WPM. So schnell sollte ein Schüler lesen können, um den Kopf „frei zu haben“ für den Inhalt eines Textes.

Ganz banal gesagt erklärt sich das über den bekannten Spruch „Lesen ist Denken mit einem anderen Kopf“: Wir sprechen normalerweise mit etwa 150 WPM. Das überfordert uns nicht, wir können so schnell sprechen, wie wir denken. Wenn uns ein Gedanke aber schwer fällt, sprechen wir langsamer oder gar nicht. Umgekehrt heißt das: Wenn wir einen Text, also die geschriebenen Gedanken von jemand anderem, nur langsamer als mit 150 WPM lesen können, dann können wir diese Gedanken nicht so schnell nachvollziehen wie unsere eigenen. Das ist nicht gut, besonders dann nicht, wenn wir uns zu diesem Text auch noch eine Meinung bilden wollen. Schnelle Leser hingegen lesen im Stillen doppelt und dreifach so schnell, wie sie sprechen. Das Lesen ist deshalb auch die effizienteste Art der Informationsaufnahme. Die oft beschworenen „Lerntypen“ sind eben nicht gleichwertig, denn wer Informationen über das Hören statt Lesen aufnimmt, braucht ein Vielfaches der Zeit, um die gleiche Menge an Informationen zu konsumieren (und zu verarbeiten) wie ein guter Leser.

Jeder gute Leser kennt daher auch das unangenehme Gefühl, wenn ein Lehrer oder Redner ein Skript austeilt und dann verlangt, man soll auf dem Blatt mitlesen, während er den selben Text vorliest. Die gute alte „Vorlesung“ ist, wenn sie in dieser Form stattfindet, eine Qual. Man fühlt sich ungeduldig, da man merkt: Ich könnte die gleichen Informationen in Ruhe und viel schneller still für mich lesen. Das Mitlesen im Vortragstempo langweilt und zieht mental an unseren Zügeln, es bremst uns. Ein schlechter Leser hat dieses Gefühl nie, weil er nicht einmal das Tempo des Vortragenden erreicht, den Text nicht in normaler Sprechgeschwindigkeit mitlesen kann. Es werden daher oft schlechte Leser fälschlich für „auditive Lerntypen“ gehalten. Sie sind aber kein anderer Typus, sie lesen nur zu schlecht. Wenn man sie fördern würde, damit sie schneller lesen können, wäre auch für sie das Lesen die bessere Art der Informationsaufnahme.

Warum genau das Lesen ab 150 WPM so gut fürs Lernen ist, erklärt sich durch die Bindung der Aufmerksamkeit: Wer langsamer liest als 150 WPM, verwendet noch einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit und Kraft darauf, die Wörter überhaupt zu entschlüsseln. Er ist noch damit beschäftigt, sie entweder aus Buchstaben zusammenzuschleifen oder die Morpheme (Wortbausteine) richtig zusammenzusetzen. Die „magische Grenze“ der 150 WPM lässt sich ganz einfach aus unserer Sprech- und Denkgeschwindigkeit erklären: Wenn wir unsere Gedanken sorgfältig ordnen und überlegt sprechen, sprechen wir ungefähr mit einer Geschwindigkeit von 150 WPM. Ein Nachrichtensprecher beispielsweise trägt die Tagesereignisse mit ungefähr dieser Geschwindigkeit vor, Eltern lesen in diesem Tempo die Gute-Nacht-Geschichte, und wir erklären in der Werkstatt unseren Reparaturwunsch mit etwa dieser Sprechgeschwindigkeit. In all diesen Fällen sprechen wir natürlich nicht schneller, als wir denken können, sondern so, dass wir unsere Gedanken klären und dem anderen Zeit geben, sie zu verstehen. Wenn wir mit der selben Geschwindigkeit eine Text lesen, ist Lesen für uns tatsächlich „Denken mit einem anderen Kopf“ (Schopenhauer): Wir können dann die Gedanken des Autors ungefähr so flüssig wie unsere eigenen nachvollziehen. Wer hingegen deutlich langsamer liest, kann das nicht. Das bequeme am „Denken mit einem anderen Kopf“ ist, dass wir sogar noch viel schneller lesen lernen können und auf diese Art in sehr kurzer Zeit sehr viele Informationen aufnehmen können. Das ist deshalb möglich, weil beim Lesen (im Gegensatz zum Hören) die Verarbeitung der gesprochenen Information, die auditive Verarbeitung, wegfällt.

Umgekehrt aber ist ein langsamer Leser bereits weitgehend ausgelastet mit der Aufgabe, den Text überhaupt zu entziffern. Für den Inhalt hat er dabei gar nicht „den Kopf frei“. Das ändert sich erst durch Automatisierung, die sich wiederum in einer hohen Geschwindigkeit zeigt. Wie sehr das in einer lokal konzentrierteren Gehirnaktivität sichtbar wird, ist bei Jansen / Streit eindrucksvoll illustriert: Sie zeigen, dass routinierte Leser, deren Lesefertigkeit stark automatisiert ist, mit viel weniger beteiligten Hirnarealen die gleiche Verständnisleistung erzielen wie ein ungeübter Leser, der dafür sehr große Teile seines Gehirns aktivieren, zu Hilfe nehmen und beanspruchen muss.

Schlechtes Lesen bindet also Aufmerksamkeit, die für weitere Anforderungen dringend gebraucht würde. Ein Schüler, der sich noch anstrengen muss, um den Text überhaupt zu lesen, kann nicht die in allen Fächern in der 4. Klasse geforderte Aufgabe bewältigen, Fragen zu Texten flüssig und sicher zu beantworten. In der weiterführenden Schule ist regelmäßig die Lektüre eines Textes nicht die eigentliche Aufgabe, sondern die Lektüre und das Textverständnis sind die selbstverständliche Voraussetzung dafür, die darauf folgenden Aufgaben überhaupt zu lösen. Garbe et al. (S. 147f.) fordern daher sogar ein Lautlesetempo von 200 WPM und für das stille Lesen 220 WPM am Ende der Grundschulzeit, um Kinder guten Gewissens in die weiterführende Schule entlassen zu können. Meine bisherigen Stichproben zur realen Lesegeschwindigkeit von Viertklässlern zeigen hingegen schockierend weit darunter liegende Leistungen und eine bestürzende Ignoranz mancher Lehrkräfte in diesem Punkt.

Die Geschwindigkeit von ca. 150 WPM ist noch aus einem weiteren Grund ein wichtiger Meilenstein: Das ist in etwa das Tempo, mit dem Eltern ihren Kindern normalerweise vorlesen. Es entspricht damit zugleich einem gut verständlichen Sprechtempo. Was bedeutet das für Kinder, die das Lesen lernen? Es bedeutet, dass vorgelesen zu bekommen, Hörspiele zu hören oder gar fernzusehen enorm viel reizvoller ist, als selbst zu lesen – solange man selbst langsamer liest als alle Vorleser und Sprecher in diesen Medien.

Sobald man selbst deutlich schneller ist, kehrt sich das um: Wer selbst liest, bekommt nun viel mehr „Geschichte pro Minute“ mit als ein Zuhörer. Daher bevorzugen eifrige Studenten auch das Skript gegenüber der Vorlesung: Sie bekommen so den gleichen Stoff in der Hälfte der Zeit mit. Wenn eine Vorlesung wirklich nur eine „Vorlesung“ ist, ist sie für gute Leser ineffizient, wie oben beschrieben.

Als langsamer Leser kann man den Inhalt eines Romans nicht entspannt genießen, weil das reine Erlesen der Wörter noch so viel Anstrengung und Aufmerksamkeit erfordert. Daher kann das Kind auch nur wenig Freude am Text, wenig Lesegenuss erleben, solange es langsamer liest als 150 WPM. Das hat eine sehr wichtige erzieherische Konsequenz: Wenn Lehrer und Eltern aus Angst, „Druck“ zu machen, nicht genau hinsehen und das Erstlesen zu gemächlich angehen, dann dauert es viele Jahre, ehe das Kind ein Tempo erreicht, mit dem es überhaupt Freude am Lesen finden kann. Mit jedem Jahr, das ins Land geht, wird das Lesen stärker als quälende und fruchtlose Anstrengung erlebt. Die Abneigung gegen das Lesen steigt dann, statt abzunehmen. Deshalb ist es wichtig, am Anfang mit ansteckender Begeisterung nicht nur vorzulesen, sondern mit dem Kind täglich lesen zu üben – gerade, solange es noch langsamer liest als 150 WPM. Es ist nicht übergroßer Ehrgeiz, sondern eine angemessene Hilfestellung, Kindern möglichst früh eine hohe Lesegeschwindigkeit zu verschaffen. Denn erst damit öffnet man ihnen das Tor zu den unfassbar vielen wunderschönen Welten, die ihnen niemand mehr nehmen kann, wenn sie einmal aus dem Buch in die Erinnerung des Kindes gelangt sind. (Gute Kinderbücher zum Üben und Erfreuen finden Sie auf meiner Kinderbibliotheksseite.)

Wann ein Kind diese Schwelle erreicht haben sollte, ist eine Frage, die sich in der Praxis leider viel zu wenige Schulen und Eltern stellen. Denn das würde ja bedeuten, dass man sich für den Unterricht und das häusliche Lesen konkrete Ziele setzen muss, an denen man dann auch gemessen wird. Weil aber die Eckpunkte, die für diese Frage wichtig sind, sehr logisch und gut belegt sind, ist ein klarer zeitlicher Rahmen eigentlich leicht zu definieren. Mehr dazu in den weiteren Teilen des Themenblocks!

Alle Teile des Themenblocks „Lesegeschwindigkeit“ finden Sie, wenn Sie dieses Schlagwort im Suchfeld eingeben, oder über folgende Liste:

Teil 1: Warum sollte man 150 Wörter pro Minute lesen können?

Teil 2: Wie schnell sollte ein Kind in welchem Schuljahr lesen?

Teil 3: Flüssig lesen kommt von selbst – oder?

Teil 4: Was passiert ohne Leseförderung?

Teil 5: Wie misst man die Lesegeschwindigkeit (WPM) sinnvoll?

Teil 6: Was sagt ein Lesegeschwindigkeits-Test aus?

Teil 7: Warum liest mein Kind zu langsam?

Teil 8: Wie lesen Leseanfänger?

Weiterführende Literatur: