In Deutschland wird gerne darüber lamentiert, wie furchtbar weit die Schere der Ungleichheit in der Schülerschaft gespreizt sei. In kaum einem anderen Land hängt der Schulerfolg so stark vom Elternhaus ab. Seit vielen Jahren wird hierüber gejammert, aber Konsequenzen daraus sollen vor allem die Schulen ziehen. Für Eltern, die ihre Kinder kaum zu Konzentration und Selbstdisziplin erziehen und sich wenig um Bildung bemühen, gab es keine Konsequenzen. Die Lieblingslösung vieler Bildungspolitiker heißt: äußerliche Gleichmacherei. Maßnahmen wie die Abschaffung verschieden anspruchsvoller Schulformen sollen eine Chancengleichheit vortäuschen, die in Wirklichkeit dennoch nicht herrscht. Erwin Breitenbach hat schon mehrfach hier im Blog erklärt, dass wirklich gleiche Chancen die unterschiedlichen Bedingungen umso stärker zutage treten lassen. Selten nur findet das Gehör.

In der Corona-Situation hingegen kann niemand mehr die Augen vor diesem Fakt verschließen. Denn neben einigen äußerst engagierten Kollegien, die komplette Vormittage Frontalunterricht per Videokonferenz übertragen, liefern viele Schulen primär schriftliche Arbeitsaufträge an die Schüler aus. Diese sollen eigenverantwortlich bearbeitet werden, teils mit einem Wochenplan zum Abhaken als Strukturierungshilfe. Zusätzlich sind einige Lehrkräfte zu festen Terminen per Chat erreichbar. Neuer Stoff wird aber im Videochat mancher Schulen nicht behandelt, sobald auch nur ein einziger Schüler fehlt, da dieser sonst gegenüber dem Gleichbehandlungsprinzip benachteiligt wäre. Dann werden lediglich Fragen der Schüler beantwortet.

Ob die Materialien am Computer heruntergeladen werden müssen oder auf Papier vorliegen, ist im Endeffekt nebensächlich. Letzten Endes müssen die Kinder aus Texten (und einigen Lehrfilmen) lernen und primär hörend, lesend und schreibend neuen Stoff selbst erarbeiten und üben. Das ist auch an sich nicht falsch, ich will nicht darauf hinaus, dass zu wenig Sinne angesprochen würden – davon halte ich wenig, wie bereits an anderer Stelle erklärt.

Wer bereits gebildet und gut erzogen ist, hat die Nase vorn

Ich will auf etwas anderes hinaus. In der beschriebenen aktuellen Situation kommen zwei große Kernkompetenzen der Kinder zum tragen: Sachbezogene Basisfertigkeiten und erzieherisch bereits aufgebaute Selbstdisziplin. Zu den Basisfertigkeiten, die jetzt über Erfolg und Misserfolg entscheiden, zählen: zuhören, lesen, schreiben; sich Stoff einteilen; in Büchern nachschlagen; Schlüsse aus Texten ziehen; Hefteinträge sauber verfassen. Zur Selbstdisziplin gehört die Fähigkeit, sich auch dann zu konzentrieren, wenn ein Thema langweilig wird; am Schreibtisch zu sitzen und nicht alle paar Minuten zum Kühlschrank oder zur Spielekonsole zu laufen; Dateien aus dem Internet zu laden, ohne sich von den vielfältigen anderen Möglichkeiten des Computers oder Smartphones ablenken zu lassen; Chaträume zielgerichtet zu nutzen und nur sinnvolle Dinge zu schreiben. Ganz banal kann man sagen: Wer bereits gebildet und gut erzogen ist, hat die Nase vorn.

Wenn Lehrer nicht erziehend eingreifen, geben die elterliche Erziehung und die Selbsterziehung des Schülers den Ausschlag

Umgekehrt gilt: Wer nur stockend liest, wer kaum Kopfrechnen kann, wer schlampig arbeitet, wird im Moment wenig Lernerfolg haben. Je schwächer die bisher erlangten Fertigkeiten eines Kindes sind, umso mehr ist es auf die Anleitung durch einen Erwachsenen angewiesen. Im Klassenzimmer können das ein Stück weit die Lehrkräfte leisten, und zwar gerade im vielgescholtenen Frontalunterricht. Der erlaubt ihnen nämlich, jede Frage und Erklärung an den einzelnen Schüler anzupassen (entsprechende Fähigkeit zur blitzschnellen förderdiagnostischen Einschätzung vorausgesetzt). Zuhause müssen nun die Eltern der Kinder diese Rolle übernehmen, und wenn sie dies nicht tun, nicht tun können oder nicht tun wollen, wirkt sich der schlechte Lernstand eines Kindes umso stärker aus. Von der Intelligenz als angeborener Größe ganz zu schweigen.

Es gibt kaum digitale Autorität

Neben dieser sachbezogenen, didaktischen Seite spielt die Erziehung durch Lehrer und Eltern eine große Rolle. Nicht, dass ich die aktuelle Belastung der Eltern fair fände – Unterrichtsübertragung per Video sollte in Zukunft ein Standard werden, z.B. für kranke Kinder, und Lehrer sollten digital mehr leisten als nur Arbeitsblätter zu verschicken. Aber die aktuelle Situation ist, wie sie ist. Und auch in Zukunft wird die Qualität häuslichen Lernens immer von der anerzogenen Selbstbeherrschung der Kinder abhängen, schließlich kann man ihnen keine Elektroschocks verpassen, wenn sie vom Computer weggehen. Digitale Autorität funktioniert kaum, wenn jemand nicht einmal gehorchen und lernen will. Und dieser Wille, dieses Bejahen von Anforderungen, die sich von außen stellen, ist ein ganz wesentlicher Erziehungsschritt, der eigentlich schon im Vorschulalter geleistet werden sollte.

Aus einem „Lernen zuhause“ Unterrichts-Chat

Im Klassenzimmer kann die Lehrkraft unaufmerksame Kinder immer wieder mit Geduld und Konsequenz zum Thema zurückführen. Idealerweise sieht sie sofort, wenn ein Kind sich „fremdbeschäftigt“; auch das gelingt am besten im Frontalunterricht. In einem normalen Klassenzimmer gibt es zum Glück auch wenig Ablenkung – vorausgesetzt, private Smartphones werden konsequent aus der Schule ferngehalten. Im Unterricht kann ein Lehrer das Gespräch viel besser steuern, als dies in einem Chatraum möglich ist. Fehlt die persönliche Präsenz, leidet die Autorität, und man kann Schüler nunmal nicht davon abhalten, sinnlose Bemerkungen in einen Unterrichts-Chat zu schreiben (zumindest nicht, solange man ihre Tastatur nicht sperren kann):

Zuhause müssen jetzt die Eltern dafür sorgen, dass Schüler an einem ablenkungsarmen Ort arbeiten können und eigentlich auch ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Arbeit lenken, wenn sie abschweifen. Zumindest soweit die Schüler dies noch nicht können, weil ihnen noch gute Gewohnheiten fehlen und die Konzentrationserziehung noch nicht abgeschlossen ist. „Ablenkungsarm“ ist zuhause so eine Sache, wenn in einem großen Teil der deutschen Kinderzimmer Fernseher oder Computer stehen, und erst Recht, wenn das Smartphone für einen Teil der Schularbeiten verwendet werden muss. In Familien mit mehreren Kindern ist man darauf bisweilen angewiesen, da kaum jemand für jedes Kind einen eigenen Laptop zur Verfügung hat. Kurz: Eltern, die geübt darin sind, ihre Kinder zu disziplinieren und zu motivieren, und die hierfür auch die nötige Zeit und Geduld über mehrere Monate „lernen zuhause“ aufbringen, stellen einen enormen Vorteil dar. Mit jedem höheren Schulabschluss, mit jeder zusätzlich erlernten Fremdsprache der Eltern steigt die Betreuungsqualität für diese Kinder weiter, da die Eltern zu mehr Fragen der Kinder Hilfestellung liefern können (von überehrgeizigen, didaktisch aber sehr ungeschickten Eltern einmal abgesehen, Ausnahmen gibt es natürlich immer).

Frustrierte, leistungsstarke Schüler spreizen die Gleichheitsschere aus Selbsterhaltungstrieb

Im übrigen sind es auch die beherrschten und bildungsinteressierten Kinder selbst, die die „Spreizung der sozialen Schere“ vergrößern: Sie ziehen sich aus solchen Chats zurück, weil sie darin eine Zeitverschwendung sehen, wenn der Lehrer trotz ihrer Beschwerden keine effektive Arbeitsatmosphäre zu schaffen weiß. Ähnlich ist es im Klassenzimmer: Gute Schüler mögen es nicht, regelmäßig als Hilfslehrer eingesetzt zu werden, indem man sie z.B. neben schwachen Lesern platziert, anstatt sie auf ihrem eigenen Niveau zu fördern. Sie übernehmen in Gruppenarbeiten die Führung, erarbeiten den Großteil der Ergebnisse selbst und sind frustriert, wenn sie aus Gründen der „Gleichbehandlung“ die verdienten Lorbeeren mit den untätigen Gruppenmitgliedern teilen müssen. Das absichtliche Hinwegsehen von Pädagogen über solche Unterschiede führt nicht zu mehr Wertschätzung, sondern vergrößert sie nur weiter, auch wenn beherrschte, leistungsstarke Schüler meist zu höflich sind, um das deutlich auszusprechen. Im Homeschooling haben sie momentan nur wenige Nachteile, manche genießen es tatsächlich, Inhalte daheim und ungestört viel schneller abarbeiten zu können als im Präsenzunterricht.

Wenn nur noch die Lehrer erziehen und bilden, dann verwahrlosen momentan tausende Kinder

Wie sieht es aber in Haushalten aus, bei denen selbst im regulären Schulbetrieb die Kinder die einzigen sind, die morgens das Haus verlassen? In Familien, bei denen von morgens bis abends im Hintergrund der Fernseher läuft und ruhiges Arbeiten kaum möglich ist? Was ist mit Familien, in denen die Kinder die einzigen sind, die fließend Deutsch sprechen und lesen können? Was ist mit den 8 Millionen Analphabeten in Deutschland, die ja nicht sämtlich kinderlos sein dürften? Was ist mit Kindern, deren Eltern die Erziehung weitestgehend aufgegeben haben und sich nur noch auf Beschäftigung beschränken? Diese Kinder nehmen momentan am meisten Schaden und schaden zugleich sich und ihren Mitschülern, weil die Lehrkräfte online kaum noch erzieherischen Spielraum haben. Denn auch wer in einer Videokonferenz stummgeschaltet wird, kann weiter in den Computer schreien. Man kann niemanden vor die virtuelle Tür schicken, um sich zu beruhigen, und ihn anschließend wieder reinholen. Und wenn man jemanden aus einem Chatraum wirft, landet er daheim nur vor dem Fernseher statt im Lehrerzimmer. Es dürfte und sollte manchem Pädagogen schmerzlich bewusst werden, dass die oft verschrieene Disziplin lebensnotwendig ist, und dass Konsequenzen und gelegentlich auch Strafen notwendig sind, um manche Kinder überhaupt in einen Zustand zu bringen, in dem sie dem Unterricht zu folgen – und um andere Schüler vor Störungen durch sie zu schützen. Es gibt Schulen, die gehen mit diesen Situationen äußerst souverän um und verwenden sogenannte „alternative Ordnungsmaßnahmen“, bei denen z.B. Schüler, die das Mobiliar dauernd schlecht behandeln, nachmittags Reparaturarbeiten mit dem Hausmeister erledigen müssen. Solche erzieherischen Eingriffe sind momentan nicht möglich. Wenn Lehrer die einzigen im Leben eines Kindes sind, die es noch erziehen, und wenn diese Erziehung jetzt unterbleibt, dann entstehen Haltlosigkeit und Verwahrlosung. Letzteres ist kein Frage des Geldes – auch Wohlstandsverwahrlosung ist real, nur können sich betuchte Eltern mancher Folgen entziehen, wenn sie in duldsame Privatschulen investieren.

Häusliche Bildung und Erziehung sind wirkungsmächtiger als neue Schulformen

Wir sollten die Kollateralschäden, die durch den „Lockdown“ entstehen, nicht unterschätzen. Ich würde mir wünschen, dass diese Realität zumindest in zukünftigen Diskussionen über Chancengleichheit etwas ändert, dass endlich die Rolle guter Lernerziehung und echten Bildungsengagements erkannt wird. Vielleicht wird dann darüber gesprochen, wie man in einem so reichen Land wie unserem 8 Millionen Analphabeten entstehen lassen konnte. Vielleicht wird dann in Frage gestellt, ob eine Befreiung von der Rundfunkgebühr statt kostenloser Tageszeitungen wirklich das richtige Signal für Menschen in prekären Verhältnissen ist. Vielleicht wird dann hinterfragt werden, ob der Verzicht auf klar messbare Lesegeschwindigkeitsziele für die 4. Klasse wirklich der „Chancengleichheit“ dient, und ob nicht endlich das Unwort „Defizitorientierung“, aka die „klare Benennung von Lernbedarf“, ausgemustert werden sollte. Vielleicht, vielleicht… wahrscheinlicher hingegen dürfte es sein, dass mit einem Verweis auf „Nachteilsausgleich“ nun gute Noten verschenkt und Anforderungen weiter gesenkt werden, damit nur ja niemand sagen kann, Corona wäre schuld an einem schlechteren Schulabschluss. Dass nicht ein Virus, sondern unzulängliche Bildung und Erziehung zu schlechten Noten führt… wird das in drei Monaten noch jemand sagen?