Den Satz „Es ist normal verschieden zu sein“ kann man bedenkenlos unterschreiben. Das ist keine neue und überraschende Erkenntnis, gewonnen durch die Auseinandersetzung mit einer UN-Konvention. Unsere Verschiedenheit entspricht vielmehr unseren tagtäglichen Erfahrungen. Verschiedenheit ist ganz selbstverständlich Normalität. Allerdings gehört zu dieser Selbstverständlichkeit auch die Tatsache, dass die Unterschiedlichkeit oder Diversität selbst sehr unterschiedlich ist. Es gibt für die meisten von uns sehr viele Menschen, die uns sehr ähnlich sind. Die Unterschiede sind dann recht gering und fallen uns oft gar nicht mehr als solche auf. Es gibt deutlich weniger Menschen, die so ganz anders sind als wir selbst – und dies sticht uns dann als etwas Besonderes ins Auge, es fällt uns auf und wird als „auffällig“ erlebt.

Unterschiedlichkeit ist ein Fakt, kein Wert.

Ein berühmter deutscher Gelehrter, Herr Gauß, hat das sogar mathematisch bewiesen.  Diese unterschiedliche Unterschiedlichkeit bringt es mit sich, dass wir uns einerseits im Kreise der Ähnlichen vertraut und sicher fühlen. Anderseits empfinden wir den ganz Anderen gegenüber Befremden, Unsicherheit und Angst, ob wir das wollen oder nicht. Das Leben lehrt uns darüber hinaus, dass unsere Verschiedenheit in manchen Situationen bereichernd, interessant und hilfreich ist, in anderen dagegen zu heftigen Konflikten führen kann. Zum Beispiel dann, wenn unterschiedliche Fähigkeiten, Bedürfnisse und Interessen aufeinandertreffen.

Kurz und gut: Diversität an sich ist nicht etwas grundsätzlich Gutes oder etwas durch und durch Schlechtes, sondern sie ist eben etwas Normales, manchmal hilfreich und angenehm – und ein andermal behindernd und konfliktträchtig. Zu dieser Erkenntnis gelangt übrigens auch die Forschung zum Diversitätsmanagement in Industrie und Wirtschaft (siehe Stegman/van Dick 2013 und van Dick 2015).

Diversität ist eine Rahmenbedingung, kein didaktisches Prinzip.

Umso überraschender und irritierender ist es, wenn Diversität in der inklusiven Schule zur pädagogischen Maxime oder zum didaktischen Prinzip erhoben wird. Vertreter einer „inklusiven“ Pädagogik oder Didaktik behaupten gerne, in der Schule entfalte die Diversität ihre volle Strahlkraft und sei einfach nur von Vorteil. Man müsse nur fest daran glauben. Die Heterogenität führe im Unterricht fast selbstverständlich und automatisch zu größeren Lernzuwächsen und zu einem friedlichen und wohlmeinenden Miteinander. Die Diversität biete auf natürliche Weise ein reichhaltiges Lernangebot und die Schüler könnten vieles voneinander lernen. (Erstaunlicherweise verschließt man hier gerne die Augen vor der Tatsache, dass sich Kinder auch die eine oder andere Unart und Ungezogenheit abschauen und die Fehler anderer nachahmen.) Hinzu komme, dass Leistungsstärkere den Schwächeren helfen und somit die Lehrkraft bei der individuellen Förderung der Kinder mit sehr unterschiedlichen Lernausganglagen entlasteten. Die Kultusministerkonferenz empfiehlt deshalb 2015: „Die Herausforderung Heterogenität wird von Lehrkräften als Chance für ein Von- und Miteinanderlernen produktiv genutzt“ (KMK 2015, S. 6). „Kooperatives Lernen“ heißt das, und einen methodisch-didaktischen Zugang zur Umsetzung in die Unterrichtspraxis bieten angeblich tutorielle Lernverfahren.

Soweit also der pädagogische Glaube oder die didaktische Hoffnung. Und nun zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die diesen Glauben zumindest ein wenig erschüttern und die damit verbundene Hoffnung trüben: Der Teufel steckt ja bekanntlich im Detail. So ist es auch hier.

Schüler helfen Schülern? Ein bisschen…

Spilles et al. (2019) haben in ihrer aktuellen Studie die tutorielle Leseförderung mit Lautlesetandems (LLT) genauer unter die Lupe genommen. Bei den 67 teilnehmenden Kindern aus drei zweiten Klassen wurden die guten Leser zu Tutoren und die Schwachen zu Tutanden. Beide, Tutor und Tutand, lesen gemeinsam halblaut ein und denselben Text und der Tutor verbessert den Tutanden, wenn ihm Lesefehler unterlaufen. Diese tutorielle Leseförderung wurde über sechs Wochen hinweg in jeder Klasse dreimal pro Woche für jeweils 15 bis 20 Minuten durchgeführt und von den Lehrkräften überwacht. Das ganze Unterfangen sollte der Klärung folgender Fragen dienen:

  • Verbessern sich in inklusiven Grundschulklassen durch den Einsatz von LLT das wahrgenommene Klassenklima und die soziale Integration?
  • Wie wirkt sich der Einsatz von LLT auf das Klassenklima und die soziale Integration von Grundschulkindern mit externalisierenden Verhaltensproblemen aus?
  • Wie wirkt sich die Durchführung von LLT in inklusiven Grundschulklassen auf die Lesegeschwindigkeit von Tutoren und Tutanden aus?

Bei der Lesegeschwindigkeit konnten die Tutanden am Ende der Förderphase deutliche Kompetenzzuwächse verzeichnen, während sich für die Tutoren ein leichter, wenn auch nicht signifikanter Abwärtstrend ergab.

Die Befragung der Schüler zum Klassenklima und zur sozialen Integration zeigte keine durch das tutorielle LLT bewirkte Veränderungen. Der Vergleich von Kindern mit und ohne Verhaltensprobleme bestätigt jedoch, dass Kinder mit Verhaltensproblemen das Klassenklima und die eigene soziale Integration insgesamt als deutlich und signifikant schlechter wahrnehmen als Kinder ohne Verhaltensproblem. Auch im Soziogramm wird sichtbar, dass Kinder mit Verhaltensproblemen sozial weniger akzeptiert werden als Kinder ohne Verhaltensprobleme. Das tutorielle LLT ändert an dieser Tatsache nichts.

Wie immer man diese Forschungsergebnisse auch im Lichte bereits vorliegender Erkenntnisse interpretieren mag, wird doch eines sichtbar: Die Befundlage ist äußerst heterogen und verweist auf sehr komplexe und diffizile Zusammenhänge, was ganz sicher nicht den platten Heilsglauben an die Heterogenität stützt.

Inklusion bewirkt nicht automatisch Integration.

Dieser Schlussfolgerung entspricht auch das Fazit, das Huber (2019) nach der Analyse von sozialpsychologisch begründeten Förderstrategien und Fördermaßnahmen zur sozialen Integration im inklusiven Unterricht zieht. Er kommt zu dem Schluss, dass es zur Entstehung von optimalen Sozialkontakten zwischen Schülern mit und ohne Sonderpädagogischem Förderbedarf in der inklusiven Schule sehr wahrscheinlich eines komplexen Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren bedarf. Dies wiederum erfordert, „dass Lehrkräfte zur Sicherung von sozialer Integration über ein solides methodisches und inhaltliches Wissen verfügen müssen. Zentral sind hierbei … sozialpsychologische Zusammenhänge, diagnostisches Fachwissen sowie Kenntnisse über die methodischen und didaktischen Grundlagen kontaktfördernder Unterrichtsformen“ (Huber 2019, S. 39). Und dies verdeutlicht wiederum, was im Grunde alle wissen, „wie anspruchsvoll allein die Aufgabe der sozialen Inklusion aus theoretischer und schulpraktischer Sicht sein kann und wie wichtig und zentral die Rolle gut ausgebildeten Sonder- und Heilpädagogen für die Umsetzung schulischer bzw. sozialer Inklusion ist“ (Huber 2019, S. 39).

Nach diesen Sätzen erscheint der nassforsche Hinweis und Rat der KMK, Lehrkräfte müssten im Umgang mit Heterogenität selbige nur produktiv nutzen, fast schon zynisch und frech. Die in der KMK versammelten bildungspolitischen Eliten sind übrigens dieselben Damen und Herren, die die fehlenden Ressourcen in der inklusiven Schule und den Abbau behinderungs- bzw. fachrichtungsspezifischer, Forschung und Lehre an den Universitäten zu verantworten haben.

Mitschülern kompetent zu helfen will gelernt sein

Günther (2017) hat im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin methodisch aufwendig und anspruchsvoll das gegenseitige Helfen und Unterstützen von Schülern im jahrgansübergreifenden inklusiven Unterricht anhand von Videomitschnitten beobachtet und analysiert. Gegenseitiges Helfen will gelernt sein, ist eines ihrer zentralen Ergebnisse. Schüler sind eben nicht von Hause aus pädagogisch und didaktisch kompetente Helfer, die nichts als das uneigennützige Helfen im Sinne haben. Helfen unter Schülern kann auch dazu benutzt werden, bestehende Konflikte auszutragen, Unzulänglichkeiten und Verletzungen auf Seiten des Helfers aufzuarbeiten, eigene Vorurteile zu bestätigen oder die eigene Helfermacht auszunutzen, um Schwächere und Hilfebedürftige zu diskriminieren und zu verletzen. Die Kindern das Helfen zu lehren, ihnen das hilfreiche Unterstützen von schwächeren Mitschülern beim Lernen beizubringen ohne die eigene Überlegenheit zu missbrauchen, ist eine anspruchsvolle und zeitintensive Aufgabe, die Lehrkräfte nicht nebenbei erledigen, um die teilweise recht  großen Unterschiede zwischen den Kindern selbstverständlich immer produktiv zu nutzen.

Heterogenität kann schwache Schüler anspornen – oder aber entmutigen

Das Lernen in heterogenen inklusiven Klassen könnte aber auch vor allem für Leistungsschwächere langfristig negative Auswirkungen haben, die bisher niemand so recht im Blick hatte oder vielleicht auch gar nicht sehen wollte.  Göllner et al. (2018) werteten unter dieser Perspektive die Daten einer Langzeitstudie in den USA aus. Etwa 380.000 High-School-Schüler nahmen 1960 an einer standardisierten Erfassung ihrer schulischen Leistungen, ihres sozioökonomischen Hintergrundes und ihrer Erwartungen bezüglich ihrer Bildungsabschlüsse teil. 85.342 konnten nach elf Jahren und 1.952 nach 50 Jahren erneut befragt werden. Etwas vereinfachend lässt sich das Ergebnis dieser beachtenswerten und seriösen Studie folgendermaßen zusammenfassen: Wer als Kind eine Schule mit sehr leistungsstarken Schülern besucht und selbst eher zu den durchschnittlichen und schwächeren zählt, verdient später als Erwachsener weniger und arbeitet in weniger angesehenen Berufen, als ein Schüler mit vergleichbarer Leistungsfähigkeit, der auf eine Schule mit schwächeren Schülern ging. Die gerne und oft bemühte Behauptung zur Rechtfertigung heterogener Lerngruppen, dass starke Schüler die schwachen automatisch mitziehen, wird also zumindest mit deutlichen Fragezeichen versehen. Der ständige Vergleich mit besseren Mitschülern könnte statt anzuspornen, auch eher entmutigen, verunsichern und verletzen. Nach Ansicht der Autoren scheinen solche Erfahrungen in der Kindheit derart dramatisch und nachhaltig zu sein, dass junge Menschen ein geringes Vertrauen in ihre Fähigkeiten entwickeln und dann letztendlich niedrigere Bildungsabschlüsse erzielen und in schlechter bezahlten und weniger angesehenen Berufen landen.

Zu diesem Forschungsergebnis fällt mir ein von der Sozialpsychologie beschriebenes Gruppenphänomen ein: das soziale Faulenzen. Beim Arbeiten oder Lernen in heterogenen Gruppen, was ja im inklusiven Unterricht zwecks sozialer Integration heftigst empfohlen wird, reduziert sich die Gruppenproduktivität durch soziales Faulenzen. Dieses soziale Faulenzen findet sowohl auf Seiten der leistungsstärkeren als auch auf Seiten der  leistungsschwächeren Gruppenmitglieder statt. Leistungsschwächere vermindern ihre Anstrengungen, wenn sie den Eindruck haben, ihr persönlicher Beitrag ist für das Gruppenergebnis sowieso nicht besonders wichtig. Sozialpsychologen bezeichnen dies als Trittbrettfahren. Leistungsstärkere verringern ihre Bemühungen, wenn sie annehmen, die anderen – z.B. die Leistungsschwächeren – verlassen sich eh auf sie und strengen sich nicht richtig an. Das nennt man in der Sozialpsychologie den Gimpel-Effekt.

Lehrkräfte machen mit dem Lernen in heterogenen Gruppen oft vergleichbare negative Erfahrungen. Schwächere Schüler lehnen sich zurück und lassen die anderen machen, weil die es sowieso besser und schneller können. Den stärkeren wird das Arbeiten mit angezogener Handbremse irgednwann zu blöd oder zu langweilig und sie reißen die Arbeit an sich und erledigen schnell die geforderte Aufgabe. Oft stellen sie es sogar so geschickt – weil sozial erwünscht – an, dass es nach einer echten Gruppenleistung aussieht, zu der alle etwas Wichtiges beigetragen haben.

Vor diesem Hintergrund erscheint die radikale Forderung nach Abschaffung der Sonder- oder Förderschulen und das allzu bereitwillige Umsetzen durch Bildungspolitik und Schulverwaltung zumindest fragwürdig, wenn nicht vorschnell und unüberlegt. Das allzu laute und im Brustton der Überzeugung vorgetragenen Credo von der heilbringenden Diversität würde als verhaltenes Piano gesungen vermutlich eher den Tatsachen entsprechen.

 

Literatur

Göllner, R., Damian, R.I., Nagengast, B., Roberts, B.W. u. U. Trautwein (2018): It’s Not Only Who You Are but Who You Are With: High School Composition and Individuals’ Attainment Over Life Course. In: Psychological Science 1-12

Günther, P.S. (2017): “Über”-Helfen. Wie helfen sich SchülerInnen im inklusiven Unterricht? Eine Videobasierte Einzelfallstudie. Unveröffentlichte Masterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin

Huber, C. (2019): Ein integriertes Rahmenmodell zur Förderung sozialer Integration im inklusiven Unterricht. Sozialpsychologische Grundlagen, empirische Befunde und schulpraktische Ableitungen. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88, 27-43

KMK (2015): Empfehlungen zur Arbeit in den Grundschulen. Abgerufen am 23.-01.2019 von http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2015/Empfehlung_350_KMK_Arbeit_Grundschule_01.pdf

Spilles, M., Hagen, T. u. T. Hennemann (2019): Wirkungen einer tutoriellen Leseflüssigkeitsförderung auf soziale Integration von Kindern mit externalisierenden Verhaltensproblemen sowie auf Lesegeschwindigkeit von Tutoren und Tutanden. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88, 44-57

Stegmann, S. u. R. van Dick (2013): Diversität ist gut oder? Die unterschiedlichen Arten, wie Menschen sich auf Vielfalt in Gruppen einlassen und welche Effekte sie haben. In: Report Psychologie 38, 153-161

Van Dick, R., Stegman, S., Bark, A. u. A.L. Aydin (2015): Diversität in der Gesellschaft als Chance oder Herausforderung? In: Report Psychologie 40, H. 5, 194-196

Werth, L. u. J. Meyer (2008): Sozialpsychologie. Berlin: Springer