Zu schade, um vergessen zu werden: Einige Zitate von Heinrich Hanselmann und unsere Kommentare dazu. Es kommen, je nach aktuellem Anlass, immer wieder neue Texte zu dieser Sammlung hinzu!

Sondererziehung:

Besonders sorgfältige Erziehung, in welcher das aus irgend einem Grunde dauernd schwierige Kind von den leichter erziehbaren Kindern in der Erziehung und im Unterricht gesondert wird. Sinngleicher Ausdruck für Heilpädagogik.“

Heinrich Hanselmann, Eltern-Lexikon, Zürich 1956
Artikel „Sondererziehung“, S. 371

Wie schön wäre es, wenn Sonderpädagogik a) besonders sorgfältige Pädagogik und Didaktik garantierte, und b) wenn diese besondere Sorgfalt und Kompetenz geschätzt und zielgerichtet eingesetzt würde, anstatt auf ihre Abschaffung im vermeintlich goldenen Zeitalter der Inklusion warten zu müssen.


Schönschreiben.

Es ist bedauerlich, dass dieser Begriff in die Schulsprache eingeführt worden ist, weil die Kinder damit die Meinung verbinden, sie müssten zur zu gewissen Stunden und bei gewissen Gelegenheiten schön schreiben … Das Kind soll aber immer schön schreiben, und schön heißt in diesem Falle gut leserlich für andere.

Das Sichrichten nach einem vorgeschriebenen Muster – über die Güte der Schriftmuster wird in der Lehrerschaft noch immer eifrig diskutiert! – hat namentlich auf den unteren Schulstufen einen durchaus guten Sinn, weil es ja eine allgemeine Lebensaugabe darstellt.

Auf den älteren Stufen aber gestatte man auch dem Kinde, was die Erwachsenen als gutes Recht für sich beanspruchen: Originalität, wobei jedoch die Rücksicht auf andere, die die Schrift lesen müssen, im Vordergrund stehen soll.

Nicht „Schönschreibstunden“, sondern Übungsstunden im Schreiben, auch in Schmuck- und Zierschriften!“

Heinrich Hanselmann, Eltern-Lexikon, Zürich 1956
Artikel „Schönschreiben“, S. 351

Die Situation stattdessen: Weder Schönschreibstunden, noch Übungsstunden in der reinen Schreibtechnik, sondern insgesamt noch weniger Schreibübung, während ganze Wälder für minderwertige Kopien von Arbeitsblättern geopfert werden.

 


Sprachtorheiten. (Teil 1)

Das Sprechenlernen … ist für das Kind ein sehr schweres Geschäft, das leider durch Sprachtorheiten vieler Eltern unwissentlich noch erheblich erschwert wird. Denn unsere Erwachsenensprache ist sehr verwildert und voll von Ungenauigkeiten und Sinnlosigkeiten im Ausdruck. … viele meinen, ein kleines Kind verstehe die Erwachsenen besser, wenn sie das noch unfertige Sprechen nachäffen. „Totelade“ statt „Schokolade“ usw. Zweitens ist es falsch … durch Anhängen von Verkleinerungssilben wie -li dem kindlichen Verständnis sich annähern zu wollen: Isebahneli = Eisenbahn, Milcheli = Milch, bofele = schlafen usw. Drittens meide der Erzieher möglichst, die einem kleinen Kinde völlig unverständlichen Worte, Ausrufe und Redewendungen zu brauchen: … „Herr Jesus, was hast du da wieder angestellt“ (ein zweijähriger Bub hat die Hose naß gemacht) … Das unerklärte Abendgebet „Müde bin ich, geh zur Ruh’…“ bringt es auf den Gedanken, ob es neben dem Känguruh, das es im zoologischen Garten und im Bilderbuch gesehen hat, auch noch ein „Gezuruh“ gebe.

Heinrich Hanselmann, Eltern-Lexikon, Zürich 1956
Artikel „Sprachtorheiten“, S. 381

Ein weiteres Hindernis für die kindliche Sprachentwicklung sind Eltern, die ihrem Kind tagsüber den Schnuller im Mund stecken lassen und ihn nichteinmal bei Gesprächen entfernen. Die aus wenigen Gesten und Tönen bestehenden Antworten, oder einige am Schnuller vorbeigequetsche Worte, werden als hinreichende Kommunikation des Kindes behandelt. Das erzieherische Problem dahinter, nämlich die Frage, warum man überhaupt glaubt, das Kind tagsüber auf diese Art ruhig stellen zu müssen, muss gelöst werden, wenn die Sprachentwicklung sich dauerhaft vom Schnuller erholen soll.


„Angst der Eltern.

Jedes Kind ist dauernd in Lebensgefahr. Es kann erkranken, verunfallen, ohne dass es möglich wäre, alle Gefahren auszuschließen. Alle Elternfreude muss durch den Engpass des Elternleidens am Kinde gehen. Die bewusst errungene Harmlosigkeit der Eltern ist größte Wohltat am Kinde.

Heinrich Hanselmann, Eltern-Lexikon, Zürich 1956
Artikel „Angst der Eltern“, S. 31.

„Bewusst errungen” ist nicht das selbe wie sorglose Vernachlässigung oder Desinteresse. Es ist ein Ergebnis der elterlichen Selbsterziehung, des Versuchs, mit den eigenen Ängsten konstruktiv und realistisch umzugehen.


„Fernsehen.

Abgesehen davon, dass die Sensationslust und die Einstellung des Kindes auf die lauten Tagesereignisse geweckt und verstärkt werden, werden die eigene Unterhaltung im Familienkreis, die gemütliche Besprechung eigener Angelegenheiten der einzelnen Familienmitglieder behindert. Die eigene Innen- und Außenwelt tritt ganz hinter die aufregenden Geschehnisse in der „großen Welt“ zurück. Wenn Sorgen der Familie und der einzelnen Mitglieder „eigentlich“ besprochen werden sollten, bietet sich durch die Einschaltung des Fernsehapparates ein bequemer Fluchtweg an, und fast alle gehen diesen Weg.

So verführt das Fernsehen in vermehrter Weise neben Radio, Kino und „Comic strips“ dazu, aus dem eigenen Ich zu flüchten in die fremde Welt, zu „vergessen“, was man selbst ist und sein sollte.

Genießen ohne eigene Leistung verführt das Kind zu ungerechtfertigten Ansprüchen an das Leben. Der Raum- und Zeitbegriff wird kindesungemäß ausgeweitet, die „Eroberung der Welt“ zu leicht gemacht und alle Freude am eigenen Wagnis abgewürgt.“

Heinrich Hanselmann, Eltern-Lexikon, Zürich 1956
Artikel „Fernsehen“, S. 127f.

a) Es ist seltsam: Laut Statistik sieht der Durchschnittsdeutsche 3 Stunden pro Tag fern. Aber alle Eltern, die ich nach ihren TV-Gewohnheiten frage, geben an, die Kinder nur sorgfältigst ausgewählte, pädagogisch wertvolle Sendungen sehen zu lassen. Sie selbst, höre ich, verfolgen bestenfalls gelegentlich ein politsches Magazin oder ein Konzert im Kulturkanal. Die selben Familien müssen aber „mit großem Bedauern“ abwinken, wenn ich ihnen vorschlage, abends gegen 20:00 eine gemeinsame Lesestunde auf dem Sofa zu etablieren. Vermutlich sind sie zu dieser Zeit mit der schriftlichen Nachbereitung des gestrigen Politmagazins beschäftigt…

b) „Genießen ohne eigene Leistung“ ist ein Schlüsselbegriff. Das erschwert so manche Lernförderung: Lehrer möchten die schöne Zeit mit lerneifrigen Kleinen genießen, ohne ersteinmal die nötige Förderung und Erziehung der Klassengemeinschaft zu leisten. Eltern möchten in den Genuß kluger, erfolgreicher, zufriedener und pflegeleichter Kinder kommen, ohne diesen (und sich) etwas zumuten zu müssen. So entstehen Kinder, die auch deshalb schwer zu fördern sind, weil ihre Aufmerksamkeit minimal weit reicht, Begeisterung für Lerninhalte kaum vorhanden ist, Freude am Wagnis unbekannt und Bereitschaft zur Anstrengung unterentwickelt.


Rohkost.

Gewarnt sei aber davor, aus der Ernährungsfrage eine „Weltanschauung“ zu machen, welche schon die Kinder seelisch schwer belasten und in bedenkliche Kämpfe mit der Umwelt verwickeln [kann]. Ein Kind, das vor jedem Nahrungsmittel stutzte und fragte „Ist das gesund oder gut [d.h. lecker]?“, zeigt uns deutlich, wohin der Fanatismus führt.“

Heinrich Hanselmann, Eltern-Lexikon, Zürich 1956
Artikel „Rohkost“, S. 335

Besondere Ernährungsgewohnheiten zu pflegen, gehört in manchen Kreisen schon zum guten Ton. Man grenzt sich damit ab von der „Unterschicht“, die billiges Fleisch und zuviel Fett, Salz und Zucker konsumiert. Kulinarisch ist damit nicht automatisch etwas gewonnen, denn veganes Bio-Fertigessen ist immer noch Fertigessen. Auf der Strecke bleibt als Folge dieser Abgrenzung die Gemeinschaft, auch in Schule und Kindergarten. Aus dem Essen als verbindendem Gemeinschaftserlebnis wird eine Ansammlung von Sonderwünschen: „Leon verträgt keine Heidelbeeren, für Leonie bitte nur laktosefreie Milch, und Lutecia darf am Ausflug zur Bäckerei nicht teilnehmen, da das völlig gesunde Kind vorsorglich glutenfrei ernährt wird und dort eventuell Mehlstaub einatmen könnte.“