Früher nannte man die Pubertät den „Zweiten Gestaltwandel“ – es gibt also auch einen ersten, der aber im Gegensatz zum allgegenwärtigen Thema Pubertier bei Eltern kaum noch Beachtung findet. Dabei ist der sog. „Erste Gestaltwandel“, die Veränderung vom Kindergartenkind zum schulreifen Kind, eine wichtige Phase. Wer ihre Charakteristiken kennt, kann Verhaltensweisen des Vorschulkindes leichter einordnen und diese Phase besser und entspannter begleiten.

Andere Körperform im Ersten Gestaltwandel

Wer sich schon länger mit Entwicklungspsychologie befasst, hat vielleicht noch „den Remplein“ im Regal. Hans Rempleins Wälzer „Die seelische Entwicklung des Menschen im Kindes- und Jugendalter“ war über Jahrzehnte das Standardwerk schlechthin, ehe es vom ebenso dicken Band „Entwicklungspsychologie“ von Oerter / Montada abgelöst wurde. Remplein widmete dem 1. Gestaltwandel immerhin noch 11 Seiten, während das Thema heute sehr stiefmütterlich behandelt wird.

Der Erste Gestaltwandel markiert den Beginn des Großkindalters, also der Phase zwischen Schulreife und ausgeprägtem Einsetzen der Pubertät mit dem 2. Gestaltwandel. Von außen sichtbar wandelt sich die körperliche Gestalt des Kindes: Die Proportionen verschieben sich, die Gliedmaßen werden länger und der Rumpf tritt im Verhältnis zurück. Kindergartenkinder hatten eine eher eine Körperform wie Pu der Bär, mit verhältnismäßig großem Kopf und Rumpf und wenig definierten Muskeln an den Gliedmaßen. Das baldige Großkind scheint sich nun in der kleinen Pu-Bär-tät insgesamt zu strecken, die Kinder wirken schmaler (wenn sie normalgewichtig sind), die Schultern werden breiter und die Rückenmuskulatur ausgeprägter (Zeit, einen Schulranzen darauf zu schnallen 🙂 ). Dieser Wandel zieht sich etwa über ein Jahr hin, bei vielen Kindern beginnt er etwa mit 5 1/2 Jahren. Im Lauf dieser Zeit ist das Erscheinungsbild uneinheitlich, da nicht alle Körperteile sich zugleich und in „schönen“ Proportionen verändern.

Die kognitiven Veränderungen dieser Zeit machen das Kind bereit für das schulische Lernen, allem voran die Überwindung der kindlichen Egozentrik im Denken. Dazu an anderer Stelle mehr. Für Eltern besonders auffallend sind jedoch die Veränderungen im Verhalten, die man ohne Hintergrundwissen nur schlecht einordnen kann.

Das Kind setzt sich eigene Ziele, aber ihm fehlen noch die Mittel, um sie zu erreichen

Die Antriebslage schwankt in diesem Alter stark. Mal sind die Kinder von großer Energie und Tatendrang geprägt, während sie schon am nächsten oder übernächsten Tag schlapp und lustlos wirken können. Spiele, die bis vor kurzem noch von großem Interesse waren, langweilen das Kind nun gelegentlich, ohne dass es schon neue Lieblingsbeschäftigungen gefunden hätte. Es scheint ein wenig „in der Luft zu hängen“, orientierungslos zu sein und wirkt dabei mal müde, mal frustriert, weil es etwas mit sich anfangen möchte aber nicht recht weiß, was.

Sehr viele der Verhaltensweisen, die auf Erziehende befremdlich wirken können, lassen sich auf ein Grundmuster dieser Zeit zurückführen: Das Kind setzt sich auf einem viel höheren Niveau als zuvor eigene Ziele, leidet aber selbst darunter, dass ihm noch das Handwerkszeug fehlt (im Sozialen, in der Geschicklichkeit, im Wissen und Können), um diese auch selbständig zu erreichen. Der resultierende Frust führt bei manchen Kindern zu lautstarken Gefühlsausbrüchen, während andere eher gleichmütig und ruhig damit umgehen.

Kindergartenfreunde geraten plötzlich heftig aneinander, besonders, wenn sie im gleichen Alter sind und beide einen ausgeprägten Gestaltwandel durchlaufen. Jeder der beiden möchte Dinge tun, bei denen der Freund helfen soll.  Der will aber selbst der Chef sein und seine eigenen Ziele verfolgen. Der Konflikt ist vorprogrammiert. Zusätzlich fehlt beiden noch das Rüstzeug, wirklich zusammenzuarbeiten: Wie trifft man sinnvolle und faire Absprachen? Welche Mittel führen uns gemeinsam ans Ziel? Alles Quellen für zusätzliche Aufregung.

Hat das werdende Großkind ältere Geschwister, versucht es ganz gerne, diese zu tyrannisieren und sich ihre Fähigkeiten zu Nutze zu machen, um die neuen, selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Der Drang, nun endlich eigene Willensentscheidungen zu treffen, ist so stark, dass sich die Kinder nicht von ihren Zielen abbringen lassen, selbst wenn sie merken, dass sie momentan noch unerreichbar sind. Und das ist etwas Gutes! Freilich muss man als Erzieher darauf achten, auch in dieser Phase keine Beschimpfungen und krassen Respektlosigkeiten zu dulden. Aber das Beharren auf eigenen Zielen ist in diesem Alter ein äußerst gesunder Entwicklungsschritt, der Unterstützung braucht. Man sollte nach Möglichkeiten suchen, die das Kind zu Erfolgen bringen, anstatt ihm die Ziele auszureden.

Respekt vor den kindlichen Zielen ist wichtig

Respekt vor dem Kind als Person und damit natürlich auch vor seinen Zielen wird die ganze Schulzeit hindurch gefordert. Es ist daher zwar gut gemeint, aber eben nicht gut für das Kind, wenn Eltern z.B. den Ehrgeiz eines intelligenten Kindes, die Note 1-2 zu erreichen mit Aussagen dämpfen wie „Sei doch mit einer 3-4 zufrieden, das sind auch gute Noten.“. Wenn Kinder sich beim Erreichen ihrer Ziele nicht heillos überfordern, sollte man sie immer dabei unterstützen, z.B. durch gute Gewohnheiten, feste Arbeitszeiten, geeignete Übungsmethoden etc. Dahinter steht doch die Verheißung, dass aus dem Kind ein zielstrebiger Mensch wird, der über das nötige Rüstzeug verfügt, um seine Ziele zu erreichen. Das ist viel besser, als frühzeitig aufzugeben und die Ansprüche an sich selbst vorschnell zu reduzieren, weil man nie die Erfahrung gemacht hat, dass man ein hoch gestecktes Ziel fest im Blick behalten und mit der nötigen Anstrengung, Geschicklichkeit und Ausdauer auch erreichen kann.

Tränen und Wutanfälle beim Zeichnen und Basteln sind in dieser Phase normal

Den inneren Konflikt, der aus der Diskrepanz zwischen selbstgesetzten Zielen und unzulänglichen Fertigkeiten entsteht, kann man nicht nur im Umgang des Kindes mit anderen beobachten. Selbst wenn Kinder sich ganz alleine beschäftigen (und manchmal besonders dann) tritt er zu Tage. So hat z.B.  ein Mädchen jahrelang gerne gemalt und gezeichnet und sich auf diese Weise stillvergnügt beschäftigt. Plötzlich, scheinbar von einem Tag auf den anderen, sitzt jedoch das selbe Mädchen weinend und wütend über einem Bild, das nicht gelingen will. Es hat sich ein bestimmtes Ziel gesetzt – aber ihm fehlt noch das zeichnerische Können, damit das Bild so aussieht, wie das Kind es sich vorstellt. Sagt man „Mal doch heute Nachmittag weiter, wenn du dich wieder beruhigt hast, und geh jetzt erstmal ein bisschen in den Garten!“, bekommt man nicht selten zur Antwort „Nein, ich will jetzt weitermalen, ich will das fertig kriegen!“. Schlägt man vor, so oder so könnte man doch das Bild gestalten oder will gar eingreifen und etwas skizzieren, wird man abgewiesen: „Nein, lass mich, ich muss das selber schaffen!“. Nicht von ungefähr fühlt man sich als Erzieher an das Trotzalter erinnert.

Wenn die Ursache dieser Gefühlsausbrüche nicht eine Fehlerziehung (im Sinne mangelnder Befriedung der Antriebe) ist, sondern wirklich der erste Gestaltwandel, dann werden sie den Erwachsenen als bisher ungekannte, ungewohnte Verhaltensweisen auffallen.

Geduldiges Aushalten ist die beste Reaktion

Die beste Reaktion ist in diesen Fällen, das ungeduldige Kind in Liebe zu ertragen und sein Geschimpfe auszuhalten. Es gilt ja gar nicht den Erwachsenen, sondern der inneren Spannung, die nun einmal wirklich schwer zu ertragen ist. Ein eigentlich legitimes Ziel unbedingt erreichen zu wollen, aber an den noch unzulänglichen Fertigkeiten zu scheitern, ist wirklich frustrierend.

Nur haben wir Erwachsenen (hoffentlich) bereits gelernt, langmütig zu sein und beharrlich den Weg der kleinen Lernschritte zu gehen. So haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir allerlei Ziele erreichen können, wenn wir „dranbleiben“. Wir wissen, wo wir uns gute Lehrer oder Bücher holen können, die den Lernweg in sinnvolle Abschnitte gliedern und uns vor allzuviel frustrierendem und langwierigem Vorgehen mit Versuch und Irrtum bewahren. Der erste Gestaltwandel ist eine „Krisenzeit“, meinte Remplein, aber im positiven Sinne: Es ist eine Krisis, an der man wächst. Es ist vieles im Umbruch, aber man kann gestärkt aus dieser Zeit hervorgehen. Deshalb brauchen die von ihren Wünschen gebeutelten Kinder in dieser Phase auch oft eine extra Dosis Zuwendung – denn wenn der Wutanfall vorbei ist, sind sie manchmal ganz schön erschöpft von sich selbst und brauchen die Gewissheit, dass sie geborgen sind. Solange man keine schlechten Gewohnheiten einreißen lässt (dauerndes wütendes aus dem Zimmer rennen, Schimpfwörter, Eigensinn ohne jede Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer oder bei wirklich unvernünftigen, unsinnigen Zielen…), muss man sich in dieser Phase jedenfalls keine Gedanken machen, das Kind habe nun plötzlich eine Störung entwickelt. Es ist lediglich der ganz normale Wahnsinn.