In letzter Zeit wurden wir gefragt, warum wir eigentlich manchmal frustriert seien von unseren Kolleginnen und Kollegen im Schuldienst. Man müsste Lehrkräfte nur informieren, dann würden sie bereitwillig ihren Unterricht umkrempeln, Fehleinschätzungen eingestehen, individuelle Förderung planen und alle Schwächen ihrer universitären Ausbildung nach Feierabend alleine ausbügeln. Auch wir kennen Lehrkräfte, die das tatsächlich tun und die tolle Arbeit leisten. Aber die Schattenseiten der Realität, die uns gelegentlich frustrieren, sehen anders aus. Drei Beispiele aus der vergangenen Arbeitswoche:

Montag:

Ich verfasse Rechtschreibübungen für den Sohn einer Klientin, 4. Klasse Grundschule. Vor 1,5 Jahren vermutete die Lehrerin Legasthenie und AD(H)S – ohne dies mit Daten belegen zu können. Also: Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf Anraten der Lehrkraft. So schnell bekommt ein eigentlich unaufälliger 8jähriger einen Besuch in der Psychiatrie in seinen Lebenslauf. In meiner Schulzeit wäre das noch außergewöhnlich gewesen, heute ist es zunehmend normal. Ergebnis? Intelligenztest, Lesetest, Rechtschreibtest. Durchschnittliche Intelligenz, schwache Leistungen im Lesen und Rechtschreiben.

Aus der Psychiatrie kommen nur quantitative Testergebnisse, aber keine Fehleranalyse, keine Hinweise zur Förderung – obwohl die verwendeten Tests das durchaus vorsähen. Psychiater sind nunmal keine Didaktiker. Die Fehleranalyse und Förderplanung erledige ich, nachdem die Eltern bei mir gelandet sind. Verlauf: Im Lesen Beginn bei 56 WPM (3. Klasse!), drei Wochen später 84 WPM, zum Ende der 3. Klasse dann 123 WPM. Alles in häuslicher Übung, ohne Unterstützung oder Anerkennung durch die Lehrkraft. Das Kind ist ja jetzt „in Behandlung“ und daher außerhalb ihrer Zuständigkeit.

Heute nun: Die Lehrkraft schickte kürzlich ohne konkreten Anlass die Eltern zwecks erneuter Legasthenie-Diagnostik zur Schulpsychologin. Ich führte die erneute Überprüfung selbst durch: Lesen völlig adäquat, Rechtschreibung eindeutig im oberen Leistungsdrittel (PR 62-83). Die Fehler beschränken sich auf die schwierigsten Fälle der Konsonantendoppelung, nämlich tz und ck. Das war der Lehrkraft noch nie aufgefallen, genauso wenig wie die enorme Verbesserung des Schülers von PR 19 (vor 14 Monaten) auf nun überdurchschnittliche Leistungen. Individuelle Übungen für tz und ck bekommt er von der Schule trotzdem nicht. Die erstelle wieder ich.

 

Mittwoch:

Ein Klient von mir erhielt einen Anruf von der Schule, die Leistungen seiner Tochter im Rechnen seien „besorgniserregend“. Er bat daraufhin die Lehrkraft schriftlich, ihm genauer zu erklären, was das Mädchen im Rechnen bereits kann und wo es falsche Strategien anwendet. Er bat also um eine einfache Fehleranalyse, nachdem er hier von deren Wichtigkeit gelesen hatte. Er schickte daher eine Art Checkliste an die Lehrkraft und wollte gerne wissen,

  • ob das Mädchen manchmal noch zählt.
  • ob es die Mengen bis 5 simultan erfasst.
  • ob es die Mengen bis 10 in Teilmengen sicher zerlegt.
  • ob es alle Ziffern beherrscht.
  • ob es Zahlen im Dezimalsystem mit Verständnis bilden kann.
  • ob es die Rechenzeichen verstanden hat.
  • ob das Mädchen irgendwelche unguten Hilfs-Strategien verwendet.

Die Lehrkraft beantwortete keine einzige dieser sehr konkreten Fragen, sondern kündigte nur schwammig ein zukünftig „kleinschrittigeres Vorgehen des pädagogischen Teams“ an. Stattdessen wurde verlangt, dass die Eltern ihre Tochter „neurologisch“ untersuchen lassen und dem Arzt die Lernprobleme des Kindes erklären. Dass nur die Lehrkraft, nicht die Eltern genaue Auskunft über die Probleme im Unterricht Auskunft geben kann, wird nicht erkannt. Während Antworten auf die förderdiagnostischen Fragen unterblieben, hatte die Lehrkraft ihrem Schreiben zwei Adressen einschlägig auf ADHS spezialisierter, primär medikamentös behandelnder psychiatrischer Praxen beigelegt. Für Fehleranalyse ist man nicht zuständig, aber offenbar für psychiatrische Diagnostik.

 

Freitag:

Hurra, ich habe drei amazon-Gutscheine und kann mir neue Fachbücher aussuchen! Schön – aber mit Wermutstropfen: Die Gutscheine waren eigentlich als kleine Anerkennung für Lehrkräfte gedacht, die solche Förderdiagnostik leisten, wie der Vater vom Mittwoch sie sich gewünscht hatte. Über 2500 Menschen haben unseren Aufruf auf Facebook gelesen, uns eine solche Lehrkraft zu empfehlen. Wir wollten sie dann mit einer Urkunde und einem Gutschein für ihre tolle Arbeit überraschen. Wochenlang haben wir gewartet, aber niemand konnte uns von einer solchen Lehrkraft berichten. Schade. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

Und nicht, dass es jetzt heißt: Das sind ja alles bedauerliche, aber höchst seltene Einzelfälle. An Material mangelt es nicht, ich habe mehr als genug entsprechende Fallbeispiele vorliegen, um ein ganzes Buch zu füllen. Aber solange Kinder bei der jeweiligen Lehrkraft unterrichtet werden, möchte niemand riskieren, ihnen durch Veröffentlichung zu schaden.

Haben wir etwas gegen Lehrer? Nein. Sowohl Prof. Breitenbach als auch ich haben ja beide für das Lehramt studiert und lange Zeit an verschiedensten Bildungseinrichtungen gearbeitet. Und Lehrer ist einer der schönsten und interessantesten Berufe der Welt! Aber er geht mit großer Verantwortung einher und verlangt sehr viel Fachwissen, Selbstkritik und Selbstbeobachtung. Förderdiagnostik als tägliche Routine stellt sicher, dass dieser selbstkritische Blick auf den Unterricht auch im Arbeitsalltag nicht verlorengeht. Frustriert sind wir, wenn Kollegen, die diesen Blick verloren haben oder nie hatten, sich einbilden, ihn nicht zu brauchen.