Aus seinem didaktischen Wissen heraus macht ein Lehrender einem Schüler ein Lehrangebot und will damit ein bestimmtes Lernziel erreichen. Eine Grundschullehrerin weiß zum Beispiel, wie Kinder normalerweise das Schreiben, Lesen oder Rechnen lernen und gestaltet entsprechend ihren Unterricht. Trifft ein solches Lehrangebot beim Kind auf Lernbereitschaft und Lernmotivation, so wird es sich auf dieses Lehrangebot einlassen und lernen.

Nun können an den verschiedensten Stellen des Lehr-Lernprozesses und aus den unterschiedlichsten Gründen Lernschwierigkeiten, Lernhemmungen auftreten, die das Kind nicht allein und nicht mit den bisherigen Hilfen überwinden kann. Der Lehrende ist gezwungen, den Lehr-Lernprozess an dieser Stelle weiter zu analysieren, um zu verstehen, worin diese Lernhemmung im Einzelnen besteht. Es entsteht für ihn damit eine spezifische diagnostische Fragestellung. Eine Grundschullehrerin beschließt beispielsweise aufgrund der anhaltend schlechten Rechtschreibleistungen einer Schülerin, sich ihre bisher erworbenen Rechtschreibkompetenzen und ihre Lernbedingungen in der Klasse näher anzusehen.

Der Lehrende verfügt aufgrund seines Fachwissens einerseits über Kenntnisse zu Lernen und Lernstörungen oder zum Verlauf des Schriftspracherwerbs und des Rechnenlernens. Andererseits kennt er bereits bis zu einem gewissen Grad den Lernenden und seine individuellen Lernbedingungen.

Auf dieser Wissensbasis und an dieser Stelle des förderdiagnostischen Prozesses muss der Lehrende erste Hypothesen über mögliche Gründe und Bedingungen für das Entstehen der vorliegenden Lernhemmung entwickeln. So kann zum Beispiel die Lehrerin, deren Schülerin übermäßig viele Rechtschreibfehler unterlaufen, vermuten, diese große Fehlerzahl hänge mit einer mangelnden Kenntnis der Rechtschreibregeln, mit einer zu gering entwickelten auditiven Gliederungsfähigkeit oder mit einer zu geringen Hör-Merkspanne für sprachliches Material zusammen.

Im nächsten förderdiagnostischen Schritt prüft der Lehrende die von ihm aufgestellten Hypothesen, indem er geeignete diagnostische Verfahren auswählt und sie durchführt. So könnte obige Lehrerin die Rechtschreibfehler ihrer Schülerin systematisch nach einzelnen Fehlerkategorien ordnen, um zu kontrollieren, ob sie beim Schreiben gehäuft gegen bestimmte Rechtschreibregeln verstößt oder in welchem Ausmaß ihr Fehler unterlaufen, die typischer Weise auf  mangelhafte auditive Verarbeitung hinweisen. Das Gleiche könnte sie auch mit der Durchführung eines Rechtschreibtests erreichen, der eine Auswertung nach Fehlerkategorien zulässt.

Bestätigen die diagnostischen Informationen die Vermutungen des Lehrenden nicht, findet die Lehrerin in unserem Beispiel keine Hinweise auf eine mangelnde Regelkenntnis oder die angenommenen Schwächen in der auditiven Informationsverarbeitung, muss sie neue Hypothesen über den möglichen Bedingungshintergrund, für die vielen Fehler im Diktat suchen und diese dann wiederum überprüfen. Besagte Lehrerin wird vielleicht nun Vermutungen darüber anstellen, ob die Lernsituation in ihrer Klasse für die betreffende Schülerin ungünstig ist. Schenkt sie ihr genügend Aufmerksamkeit und Zuwendung? Traut sie ihr unter Umständen zu wenig zu und gibt vorschnell Unterstützung, sodass sie zu selten Lernerfolge erlebt, die sie sich selbst und ihrem Können zuschreiben kann? Mit Hilfe einer gezielten Unterrichtsbeobachtung durch einen Kollegen oder eine Kollegin könnte die Lehrerin nun versuchen, diese Hypothesen zu überprüfen.
Werden die Vermutungen oder Hypothesen des Lehrenden durch die erhaltenen diagnostischen Informationen bestätigt, entwickelt er nun erneut Ideen, Hypothesen über mögliche nächste Lernschritte und Lernziele sowie über Methoden, diese Ziele auch zu erreichen.  Dies gelingt ihm auf der Basis seines pädagogisch-didaktischen Fachwissens, seines Wissens über spezifische Fördermöglichkeiten bei bestimmten Lernproblemen. Die  Lehrerin unsrer rechtschreibschwachen Schülerin überlegt, dass zum Beispiel ein erneutes Erklären und Üben bestimmter Rechtschreibregeln hilfreich sein könnte. Sie kennt ein gutes Förderprogramm, in dem die Rechtschreibregeln sehr markant und für Schüler gut nachvollziehbar auf Karten dargestellt werden und wo mit Hilfe abwechslungsreicher Aufgaben und Spiele die Regeln eingeübt werden.

Im letzten Schritt des förderdiagnostischen Prozesses setzt der Lehrende nun seine Ideen  zum neuen oder veränderten Lehrangebot in die Tat um. Er kann nun beobachten, inwieweit der Schüler oder die Schülerin auf dieses Angebot zugreift, mit dem veränderten Lehrangebot seine Lernhemmungen überwindet und erfährt auf diese Weise, ob seine  Hypothesen, das neue Lehrangebot betreffend, erfolgreich und damit richtig waren. Die rechtschreibschwache Schülerin in unserem Beispiel beachtet die gelernte Rechtschreibregel häufiger und ihr unterlaufen demzufolge deutlich weniger Rechtschreibfehler.

Bleiben die erhofften Lernfortschritte aus, muss das neue Lernangebot wieder überdacht und aufgrund neuer Ideen und Förderhypothesen verändert werden.

Die einzelnen Schritte des förderdiagnostischen Prozesses machen deutlich:

  1. Untersucht werden nicht die Kinder und deren Lernprobleme, sondern unsere Annahmen, Vermutungen, Hypothesen über die Kinder und ihre Lernprobleme.
  2. Dies bedeutet in der Fortsetzung, dass ein guter Förderdiagnostiker vor allem ein reichhaltiges Fachwissen über Lernen und Lernprobleme sowie deren Behebung zur Verfügung haben muss. Nur so ist er in der Lage, ausreichend viele Ideen und Hypothesen über die Verursachung und Behebung der Lernprobleme zu entwickeln. Nur so kann er ein Kind mit seinen Lernproblemen verstehen und ein förderliches neues Lernangebot finden.
  3. Förderdiagnostik führt nicht erst zu einer angemessenen Förderung, sondern die Förderung ist ein unverzichtbarer Teil der Förderdiagnostik.

 

Weiterführende Literatur: