Kürzlich flatterte eine Einladung vom Ortsverband der Grünen zu einem Kinoabend mit dem oben genannten Slogan ins Haus. Mit diesem Untertitel wird reißerisch für den Film „Alphabet“ geworben, der angeblich radikal revolutionäre Ideen zu unserem ach so furchtbaren Bildungssystem vorbringt. Nimmt man diesen Slogan ernst und wörtlich, kommt man unweigerlich zu dem Schluss: Da benutzt jemand Begriffe und Konzepte, von denen er wenig bis nichts versteht. Denn die Definition von Hochbegabung ist an eine ganz bestimmte Verteilung menschlicher Fähigkeiten gekoppelt, die Herr Gauß gefunden hat. Nach seinen Erkenntnissen gibt es immer sehr viele Menschen, die sich in den unterschiedlichsten Persönlichkeitsmerkmalen (Intelligenz, Ängstlichkeit, Aggressivität, Rechtschreibkompetenz, Konzentrationsvermögen, sportliche Leistungen …) stark ähneln und vergleichsweise wenige, die sich von dieser mittelmäßigen Vielzahl deutlich unterscheiden. Untersucht man nur genügend viele Menschen, findet man eine immer gleiche Verteilung der Persönlichkeitsmerkmale: die Gaußverteilung, veranschaulicht in der Gauß´schen Glockenkurve. Demnach gibt es unter uns definitionsgemäß einen immer gleichen Anteil an Hochbegabten mit einem weit überdurchschnittlichen kognitiven Leistungsvermögen: und zwar exakt 2,5 Prozent.

Versucht man nun zu verstehen, könnte mit diesem Aufmerksamkeit heischenden Slogan möglicherweise folgendes gemeint sein:

Wir kommen mit so vielen Möglichkeiten auf die Welt und davon werden nur so wenige zur Blüte gebracht und voll entfaltet. Es liegt in der Natur des Menschen, dass er als „Nesthocker“ mit großer Unbestimmtheit und mit viel Potential geboren wird. Deswegen sind wir erziehungs- und bildungsbedürftig, aber auch erziehungs- und bildungsfähig. Genauso natürlich sind uns durch unsere genetische Ausstattung individuelle Grenzen gesetzt. Es lässt sich nun einmal nicht – auch nicht mit den ausgeklügelsten Erziehungs- und Bildungsmethoden –  aus jedem einen Einstein, einen Weltrekordler oder eine Mutter Theresa formen. Die Entwicklung eines jeden Menschen wird von Anfang an bestimmt durch eine vielgestaltige und hochkomplexe Interaktion zwischen Anlage und Umwelt. Wer von den beiden bei welchem Persönlichkeitsmerkmal wieviel Einfluss hat, ist eine unbeantwortbare Frage, die deshalb schon seit geraumer Zeit von der Wissenschaft nicht mehr gestellt wird. Nicht zu vergessen ist ein weiterer Bedingungsfaktor: die mit den Jahren zunehmende Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung. Unsere Fähigkeit zu antizipieren, d.h. die Konsequenzen unserer Handlungen vorherzusehen und abzuschätzen, erlaubt uns Zielgerichtetheit und Selbststeuerung und damit Entscheidungsfreiheit.

Wen soll man nun dafür verantwortlich machen, dass so viel menschliches Potential ungenutzt liegen bleibt. Wen soll man zur Rechenschaft ziehen, wenn aus vielseitig und hoch begabten Säuglingen so viel Mittelmaß wird? Wieder einmal das Versagen der Schule anprangern oder unser konkurrenz- und leistungsorientiertes Gesellschaftssystem anklagen? Das ist ebenso phantasie- wie geistlos. Zudem liegt solchen Gedanken eine recht schlichte und reichlich angestaubte Vorstellung von der menschlichen Entwicklung als berechenbarem Produkt aus Erbe und Umwelt zu Grunde. Und je nach ideologischer Ausrichtung wird der eine oder andere Faktor zum wirkungsmächtigeren erklärt.

Im Slogan von den vielen hochbegabten Säuglingen, die im Laufe der Jahre stetig ihre herausragenden Begabungen einbüßen und sich im Durchschnitt versammeln, könnte sich auch die Forderung nach einer optimalen, das heißt individuellen Förderung eines jeden Kindes verbergen. Erzieher und Lehrer sind gehalten, nach den individuellen, im Kinde schlummernden Begabungen zu suchen und diese dann mit allen Mitteln zu fördern. Entstehen soll auf diese Weise eine heterogene Schar von Menschen mit unterschiedlichen „Hochbegabungen“.

Ob tatsächlich die Heterogenität per se von Vorteil ist und in einer Gesellschaft, die in der individuellen Selbstverwirklichung das oberste Ziel sieht, tatsächlich das Heil zu suchen ist, bleibt zumindest fraglich. Wissenschaftler warnen bereits vor einer Gesellschaft, die in erster Linie aus Singularitäten besteht. Singularität wird man als Mensch, Gruppe oder Institution, wenn man das betont und herausstellt, was einen von den anderen unterscheidet, was einen aus der Masse heraushebt, was einen in besonderer Weise auszeichnet. Alleinstellungsmerkmal heißt das Zauberwort.  Wäre es nicht viel sinnvoller, in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft und angesichts einer aus vielen Gründen zunehmenden weltweiten Migration/Hetereogenität vor allem nach dem Gemeinsamen und Verbindenden zu suchen? Sollten wir nicht bei unseren individuellen Verwirklichungsbestrebungen immer auch daran denken, welche Auswirkungen sie für andere haben? Müssen wir uns wirklich immer in den Vordergrund spielen und ständig der Welt von unseren persönlichen Belanglosigkeiten berichten, um auf alle Fälle und immer sichtbar zu sein?  Geböte es nicht hin und wieder der Anstand, zurückzutreten und anderen z.B. Bedürftigeren den Vortritt zu lassen; zugunsten anderer auf ein verbrieftes Recht zu verzichten, anstatt es lautstark einzuklagen?

Für nachdenklich gewordene Leser hier einige Bücher zum Weiterdenken:

Axel Hacke schreibt in seinem Büchlein „Über den Anstand in schwierigen Zeiten“: „Es geht, wenn es um Anstand geht, um eine grundsätzliche Solidarität mit anderen Menschen, ein Empfinden dafür, dass wir alle das Leben teilen, ein Gefühl, dass für die großen und grundsätzlichen Fragen des Lebens ganz genauso gilt wie für die kleinen alltäglichen Situationen.“  Er vertritt die Ansicht, dass uns heute dieser Anstand in weiten Teilen verloren gegangen ist und dass eine Reihe unserer Probleme mit diesem Verlust zumindest einhergehen.

In Erich Kästners „Fabian“ oder „Der Gang vor die Hunde“ (wie die neu erschienene Originalfassung heißt) sowie in Hans Falladas Roman „Kleiner Mann, was nun“ wird von Menschen erzählt, die in schwierigen wirtschaftlichen und politischen Zeiten – das Dritte Reich wirft bereits seine dunklen Schatten auf Deutschland – versuchen, anständig zu bleiben.

Im Roman „Die Pest“ schildert Albert Camus den Ausbruch der Pestseuche in einer algerischen Küstenstadt. Tausende fallen der Seuche zum Opfer. Die Stadttore werden geschlossen, niemand darf mehr hinaus. Der Arzt Rieux kämpft einen verzweifelten Kampf gegen die Seuche. Warum? Rieux sagt, bei dem Kampf, den er hier führe, gehe es nicht um Heldentum, sondern: „Es handelt sich um Anstand. Das ist eine Idee, über die man lachen kann, aber die einzige Art, gegen die Pest anzukämpfen, ist der Anstand.“ Gefragt, was er denn unter Anstand verstehe, sagt er: „Der Anstand bestehe für ihn darin, seinen Beruf auszuüben“. Er arbeitet als Arzt unverdrossen weiter, weil es sein Job, seine Aufgabe ist.