Praxis Förderdiagnostik: Wie hat sich der Mathematik-Unterricht im Lauf Ihrer Karriere verändert?

Harald Walter: Mitte der 70er Jahre war das mit dem Stichwort „Mengenlehre“ verbundene Desaster halbwegs überwunden. Trotzdem gelang es der an den Hochschulen betriebenen Mathematikdididaktik erneut, den an den Schulen bewährten Mathematikunterricht neu auszurichten: Anstelle eines Lehrplans gab es plötzlich ein Curriculum; in Bayern einen curricularen Lehrplan. Zentrale Bedeutung hatte dabei der Begriff „Lernziel“. Aus den Lernzielen waren die Lerninhalte, also der Lehrstoff abzuleiten. Da der Begriff „Lernziel“ der Mathematikdidaktik, aber nicht der Mathematik zuzurechnen ist, blieb diese Wende für Lehrbuchautoren ohne gravierende Folgen. Ich wage die Behauptung, dass die von der wissenschaftlichen Mathematikdidaktik ausgehenden Reformansätze Mengenlehre, Lernzielorientierung (Curriculumsorientierung) und Kompetenzorientierung wenig zu einem besseren Mathematikunterricht beigetragen haben. Fortschritte sind wohl eine Folge einer intensivierten Lehrerfortbildung, deren Bedeutung von den Ministerien verkannt und viel zu wenig finanziell unterstützt wird.

Rainer Feuerlein: Ich möchte die algebraische Entwicklung schildern.
Der bsv-Staatsverlag wurde wie gesagt zunächst gegründet, um den schieren Mangel an Schulbüchern zu beheben. Dr. Titze hatte dabei sehr früh die Algebra übernommen. Der 1. Paragraph von Titze lautete damals „Formeln und Buchstaben“, den Begriff „Variable“ hat er z.B. erst sehr spät und vorsichtig eingeführt. Er hat den Stoff in sehr kleine Happen zerlegt und die Aufgaben sehr kleinschrittig aufgebaut. Wenn Sie Schüler an die Tafel nahmen für Aufgabe a, b, c, d lief das quasi von selbst, der Lehrer musste kaum eingreifen, weil sich das Vorgehen den Schülern leicht erschlossen hat. Das war eine der großen Stärken von Titze.

Den Ausdruck „Terme“ hat er vermieden. Gleichungen, die man lösen sollte, nannte er „Bestimmungsgleichungen“ und x die „Unbekannte“. Das Buch lief sehr gut und die Schüler waren zufrieden.

In den 60er Jahren kam die neue aussagenlogische Interpretation der Algebra auf. Ein mathematischer Satz wurde nun als Aussage betrachtet, die wahr oder falsch sein kann. Beispielsweise ist 3 + 4 = 7 wahr, 3 + 5 = 7 falsch. 3 + x = 7 ist weder wahr noch falsch und wurde deshalb Aussageform genannt. x = 4 ist eine Aussageform. Damit verschwand der Begriff der Unbekannten dadurch, aber man lernte: Die Aussageform wird eine wahre Aussage, wenn man für x eine 4 einsetzt. Damit konnte sich Dr. Titze gar nicht anfreunden und fragte Herrn Walter, ob er mitarbeiten würde.

Ich war damals seit zwei 2 Jahren Lehrer und zwar an dem selben Gymnasium, das ich selbst als Schüler besucht hatte (dem Hardenberg-Gymnasium in Fürth). Ich hatte zunächst Angst, dort von meinen neuen Kollegen als Schüler behandelt zu werden, schließlich kannten mich noch viele und waren früher meine eigenen Lehrer gewesen. Aber sie begegneten mir auf Augenhöhe und ich wurde von Anfang an als echter Kollege aufgenommen.

Aussagenlogik und Mengenlehre als Trends

Als wir nun die Mathematikbücher im Sinne der Aussagenlogik umarbeiten sollten, stand ich der ganzen Interpretation sehr skeptisch gegenüber. Für mich ist natürlich die Formel A = a ∙ b für den Flächeninhalt eines Rechtecks eine wahre Aussage und keine Aussageform.

Unsere Arbeitsgebiete waren nun Aussagen, Aussagenformen und Terme. Die Mengenlehre selbst war kein Problem für Titze oder für das Gymnasium, da leicht zu verstehen war, dass nur bestimmte Zahlen für die Antwort in Frage kamen und das war nun die Lösungsmenge. Die Lösungsmenge wiederum enthielt die Zahlen, die zu einer wahren Aussage führten. Auf Dauer gesehen hat sich das ganz streng aussagenlogische Vorgehen dann doch nicht so bewährt. Ich widmete dem Algebra-Buch immer mehr Arbeit; mein Name rückte so bei den weiteren Überarbeitungen von der 3. Stelle an die 2. und 1. Wir wendeten in den weiteren Überarbeitungen weniger streng das pure Konzept der Aussagenlogik an. Wenn x = 4 ist, dann ist nunmal x = 4; es ist ein wenig lächerlich, das künstlich aufzubauschen.

Unsere Bücher bewährten sich und es wurde in den 80er und 90er Jahren kontinuierlich mit ihnen gearbeitet.

„Dicke Bücher verkaufen sich nicht!“

Praxis Förderdiagnostik: In welchen Punkten waren oder sind Sie als Fachmann mit den staatlichen Vorgaben nicht einverstanden?

Harald Walter: Bei der Begutachtung von Lehrbüchern fordert das KM die Gutachter ausdrücklich auf, genau zu überprüfen, ob die Manuskripte alle Forderungen des Lehrplans erfüllen. Es war jedoch grundsätzlich möglich, auch einige Themen anzusprechen, die nicht durch den Lehrplan vorgegeben waren. Hierbei hatte eher der Verlag eine bremsende Funktion. Ich erinnere mich an eine Aussage des Verlagsleiters des bsv in einer Verlagsbesprechung: „Wir brauchen dünne Bücher, dicke Bücher verkaufen sich nicht.“

In der öffentlichen und auch der politischen Diskussion wird nicht selten eine „Entrümpelung“ der Lehrpläne gefordert. Ich behaupte, dass es in den Mathematiklehrplänen kein Gerümpel gibt. Gymnasien sind allgemeinbildende Schulen, ihre Aufgabe ist es nicht, auf bestimmte Berufe vorzubereiten. Um den Aufbau einer mathematischen Theorie aus Axiomen, Definitionen, Lehrsätzen und Beweisen zu erfassen, ist nahezu jedes Teilgebiet der Mathematik geeignet, d.h. die Inhalte sind austauschbar. Die meisten Mathematiker werden in ihrem Berufsleben nie ein Integral berechnen oder eine Differentialgleichung lösen.

Rainer Feuerlein: Nach der Mengenlehre und der Lernzielorientierung hat die Teilnahme deutscher Schulen an der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 den Unterricht sehr stark verändert. Die deutschen Schüler konnten Standardaufgaben sehr gut lösen, aber sprachlich vermittelte Aufgaben oder Kapitänsaufgaben nur sehr mangelhaft. Dann hat man sich gefragt, was man machen müsste, um das zu ändern, und dachte vor allem an die Aufgabentypen. Bei den alten Büchern waren sämtliche Aufgaben lösbar. Nun sollten die Schüler auch Aufgaben bearbeiten, die unlösbar sind. Für unsere Schüler war das sehr ungewohnt. Man war aber nun angehalten, solche Aufgaben einzustreuen, um mehr zum freien Denken anzuregen. Zuvor war Mathematik den Schülern leichter gefallen, weil sich die Aufgabenstruktur Schritt für Schritt auseinander ergeben hatte.

Nun sollten wir die gut funktionierende Struktur, die Titze entwickelt hatte, aufgeben, und mit Absicht das Ganze etwas holpriger gestalten. Mir war das nicht Recht und ich habe immer wieder versucht, die gute Struktur doch noch als roten Faden zu erhalten.


Ein Erlanger Professor hat damals bereits kritisiert, dass man so stark in die sprachliche Formulierung ging. Der Lehrer ist hier entscheidend – er muss zeigen, wie man die sprachlich formulierte Aufgabe Schritt für Schritt in mathematische Formulierungen umsetzt.

Neueste Mode: „Kompetenzorientierung“

Harald Walter: „Kompetenzorientierung“ ist nach „Mengenlehre“ und „Curriculum“ der nächste und wohl vorerst letzte Versuch der an den Hochschulen betriebenen Mathematikdidaktik auf den in den Schulen praktizierten Unterricht einzuwirken.

Durch die „kompetenzorientierten“ Aufgaben, die in Reaktion auf PISA enstanden sind, wird viel mehr in normaler Sprache formuliert, was dann erst in mathematische Sprache übertragen werden muss. Die sogenannten „Textaufgaben“ waren schon immer besonders gefürchtet, da hier die in allen Fächern unverzichtbare Fähigkeit zum „sinnerfassenden Lesen“ gefragt ist. Im heutigen Schulbetrieb kommt hier erschwerend dazu, dass es kaum noch Klassen gibt ohne Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist oder (noch problematischer) in deren Familie nicht Deutsch gesprochen wird.

Andererseits bieten gerade Textaufgaben auch dem Mathematiklehrer die Chance, auf einem elementaren Niveau das „Mathematisieren“ zu üben (d.h. umgangssprachlich formulierte Aufgaben in einen mathematischen Ansatz zu übersetzen) und umgekehrt auch das Verbalisieren (d.h. Ergebnisse von Berechnungen umgangssprachlich zu interpretieren). Das „Mathematisieren“, also die Übersetzung von Alltagsproblemen in Mathematik, war lange Zeit eher ein Thema im Bereich der Mathematikwettbewerbe und nicht Standard in Schularbeiten. Jetzt ist es allgegenwärtig. Ein Lehrer verdient besondere Anerkennung, wenn es ihm gelingt, bei diesen Aufgaben Erfolgserlebnisse zu vermitteln.

Inzwischen kann den von Mathematikdidaktern betriebenen Diskurs kein Lehrbuchautor und erst recht kein im Berufsalltag voll ausgelasteter Lehrer mehr überblicken. An ihrem Fach interessierte und beruflich engagierte Lehrer sind häufig Mitglieder des seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden Fördervereins MNU und werden durch die Zeitschrift „MNU-Journal“ hinreichend über fachliche Belange der MINT-Fächer informiert. Vor allem um zusätzliche Publikationsmöglichkeiten zu schaffen, wurde 1975 die GDM (Gesellschaft für Didaktik der Mathematik) gegründet, deren Aktivitäten wohl von den wenigsten im Schuldienst tätigen Kollegen wahrgenommen werden.

Die Herleitung ist oft nur ein Feigenblatt

Praxis Förderdiagnostik: Die Universitätsmathematiker scheinen sich einig zu sein, dass der aktuelle Mathematikunterricht an Gymnasien nicht mehr ausreichend auf ein naturwissenschaftliches, technisches oder mathematisches Studium vorbereitet. Der Vorwurf der Noteninflation im Abitur ist gut belegt, Studienanfänger in NRW z.B. erreichen im Mittel seit 2002 gerade einmal 3,4 von 10 Punkten im Eingangstest.

Harald Walter: Seit Jahrzehnten wird die Frage diskutiert, wie die Lücke zwischen Schul- und Hochschulmathematik geschlossen werden kann. In der gymnasialen Oberstufe ist es die wichtigste Aufgabe der Lehrer, ihre Schüler optimal auf das schriftliche Abitur vorzubereiten. Ein Unterricht, der vor allem eine optimale Vorbereitung auf ein Mathematikstudium anstrebt, ist allein deshalb schon unangebracht, da in jeder Lerngruppe nur sehr wenige davon profitieren würden. An den meisten Hochschulen ist es heute ohnehin üblich, Studienanfängern Vorkurse anzubieten, um mangelnde Vorkenntnisse zu erkennen.

Zur Zeit ist es wohl bei weitem noch nicht zu beurteilen, wie die Möglichkeit, jederzeit und in kürzester Zeit am Computer Fachwissen aus allen Wissenschaftsbereichen abzurufen, das Berufsleben von Akademikern beeinflussen wird. Vor einigen Jahren wurde im Kreise von Fachkollegen folgendes Ergebnis einer Studie stark beachtet und intensiv diskutiert: Mathematiker seien auf dem Arbeitsmarkt auch deshalb stark gefragt, weil man mit einem erfolgreichen Mathematikstudium auch ein hohes Maß an Frustrationstoleranz erwirbt.

Rainer Feuerlein: 2017 haben sich 130 Professoren beim Kultusministerium beschwert, dass die mathematischen Kenntnisse der Studenten so schlecht sind. Das liegt m.E. auch an den Büchern, die zwar die Lehrsätze angeben, aber die Herleitung ist oft nur ein Feigenblatt. Der Mathematik-Unterricht ist dazu entartet, dass man sagt, wie es geht und Aufgaben dazu rechnet, aber man versteht die ganze Geschichte nicht. Wenn ich etwas selbst beweise, setzt sich das ganz anders fest, als wenn ich es erklärt bekomme und ein paar Beispiele rechne. Mathematik kann sehr anschaulich sein, wenn man eine klare Vorstellung von einem Problem hat – auch wenn das ein sehr abstraktes Thema an der Uni sein sollte.

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