Seit über 100 Jahren wird – fälschlich – behauptet, nichts sei Unsinniger, als dass ein Lehrer den Schülern Fragen stelle, auf die er die Antworten schon kennt. Umgekehrt sollte es sein, meinte 1909 der Didaktiker Gaudig: Die Schüler müssten den Lehrer fragen und dieser solle antworten. Schließlich sei er der Experte, und die Situation, in der der Lehrer fragt, sei künstlich und demotivierend.

Seit über 50 Jahren ist diese Behauptung widerlegt (durch Hans Aebli 1961 in „Grundformen des Lehrens“) – sie hält sich aber hartnäckig, denn sie scheint so einleuchtend zu sein. Grund genug, hier einmal zu erklären, warum Gaudigs Behauptung ein Trugschluss war. 

Lehrer fragen nicht nach Auskunft

Gaudig verdreht die Bedeutung des „Fragens“ auf eristische Weise, um seinen Punkt zu machen. Der Lehrer fragt nicht wie jemand, der nach dem Weg fragt. Wenn er selbst versteht, wozu er fragt, dann wird er auch gar nicht nach dem Motto von Lehrer Bommel aus der Feuerzangenbowle sagen „Dann stellen wir uns einfach mal ganz dumm…“ und so tun, als wüsste er selbst nicht, wovon er spricht. Der Lehrer fragt nicht, um Auskunft von den Schülern zu bekommen, sondern um ihr Denken zu lenken. Er leitet sie durch gezielte Fragen in sachlogischen Schritten durch den Erkenntnisprozess, damit sie als eigene konstruktive Leistung zu dem Ergebnis kommen, das er schon als fertige Erkenntnis besitzt – weil er selbst zu einem früheren Zeitpunkt den gleichen Erkenntnisprozess durchlaufen hat. Und an diesem Führen führt kein Schritt vorbei.

Denn die Schüler selbst wissen gar nicht, wonach sie fragen sollen, welche Aspekte eines neuen Gegenstands wesentlich und unwesentlich sind. Schule kann auch nicht so funktionieren, dass die Schüler selbst alles entdecken, denn wir stehen nun einmal geistig auf den Schultern von Riesen. Das heißt: Wir sind in der Lage, uns innerhalb eines Menschenlebens die Erkenntnis von mehreren Jahrtausenden menschlicher Denkleistung anzueignen – weil wir die Um- und Irrwege der Menschen nicht mitgehen müssen, die etwas zum ersten Mal erfunden haben. Wenn wir das müssten, müsste jeder von uns in seiner Person Aristoteles, Immanuel Kant, Thomas Edison und Steve Jobs vereinigen, um all die Ideen selbst zu haben, die die großen Denker und Künstler selbst hatten. Und das können wir nicht. Was wir aber können ist, deren Denkleistungen so aufzubereiten, dass wir sie nachvollziehen können, in unserem Denken re-konstruieren können und uns somit zu eigen machen. Dass heutzutage dem Nachvollziehen von Erkenntnissen so wenig Wertschätzung entgegengebracht wird, ist äußerst bedauerlich – die stattdessen geforderten „kreativen“, also schöpferischen Eigenleistungen sind mehr als kläglich, wenn sie nicht auf dem Fundament handfester Kenntnisse stehen. Das gilt zumindest für 99,9% von uns – und die 0,1%, die vielleicht der nächste Edison oder Aristoteles werden, profitieren ebenfalls vom geistigen Erbe der vergangenen Jahrtausende. Wenn nicht so viele Eltern dächten, ihr Kind wäre ganz sicher ein solches Genie, brächten sie auch dem nachvollziehenden Unterricht eher die nötige Wertschätzung entgegen… aber das nur am Rande.

Fragen regt zum eigenen Denken an

Kern ist: Der Lehrer leitet durch seine Frage das Denken der Schüler in die richtige Richtung; und die Schüler brauchen diese Hilfe, denn sie wüssten von alleine nicht, wonach sie Ausschau halten sollten. Aebli erklärt dies am Beispiel der Tollkirsche: Eine Klasse bringt von einer Wanderung einige Zweige mit Tollkirschen aus dem Wald mit. Dass diese Pflanzen überhaupt ein sinnvolles Unterrichtsthema darstellen, konnte wiederum nur der Lehrer wissen; schon beim Auftrag, einige Zweige zu pflücken und vorsichtig in die Schule mitzunehmen, war sein Wissen im Spiel. Der Lehrer weiß, dass man die tödlich giftige Tollkirsche leicht mit der harmlosen Einbeere verwechseln kann, und er möchte, dass auch die Schüler wissen, wie man die Tollkirsche von ihr unterscheidet.

Wenn er nun die Schüler nicht fragte, sondern ihnen einfach vortragen würde, was er darüber weiß, würden sich viele von ihnen bald langweilen. Der Lehrer müsste sich zumindest auf die intrinsische Motivation der Schüler verlassen, jedes Wort von seinen Lippen aufzusaugen und innerlich seine Gedanken nachzuvollziehen. Die Schüler haben bei einer reinen Erzählung wenig Interesse, selbst aktiv zu werden und das Gesagte nachzuprüfen, denn schließlich hat der Lehrer meistens sowieso Recht. Fragt der Lehrer hingegen gezielt, ist die Chance viel höher, dass die meisten Schüler sich innerlich stark beteiligen, und wenn ein Schüler sichtlich unaufmerksam wird, kann der Lehrer ihn gezielt ansprechen. 

So fragt also der Lehrer z.B., wieviele Kelchblätter die Tollkirsche besitzt. Der Schüler käme „von sich aus nicht auf den Gedanken, die Zahl der Kelchblätter festzustellen“; er wüsste i.d.R. nicht einmal, dass „Kelchblatt“ ein Begriff ist, ein wiederkehrendes und bei der Unterscheidung hilfreiches Merkmal verschiedener Pflanzen. Die Aufforderung des Lehrers ist keine Frage in dem Sinne, dass er von den Schülern wissen will, wie viele Kelchblätter es sind; zählen kann er ja selber. Er möchte, dass die Schüler den Aspekt von der Anzahl der Kelchblätter betrachten, dass sie „die Auffassungstätigkeit des Zählens“ auf die Kelchblätter anwenden, um sich die neue Erscheinung (die neue Pflanze) geistig zu assimilieren (Piaget). Der Lehrer möchte, dass die Schüler mit ihren geistigen Werkzeugen aktiv werden und handeln. Er muss dazu gezielt fragen bzw. auffordern, denn der Schüler kann nicht im Voraus wissen, welche Auffassungstätigkeiten ihn bei einem neuen Gegenstand am besten voranbringen, mit welchen geistigen Werkzeuge er den jeweiligen Lerngegenstand am besten bearbeiten kann.

Jede Frage regt zu einer spezifischen Auffassungstätigkeit an

Das gilt für viele Fragen, die der Lehrer dem Schüler stellen kann: „die Frage „Wo“ läßt ihn den Gegenstand auf seine Lage untersuchen, die Frage „Warum“ schlägt die kausale Betrachtungsweise einer Erscheinung vor usw. … Da jedem Gesichtspunkt eine Auffassungstätigkeit entspricht, läßt sich auch sagen, daß jede Frage den Schüler zum Vollzug einer bestimmten Auffassungstätigkeit am Gegenstand auffordert. So lädt die Frage „Wie viele?“ zum Zählen, die Frage „Wie lang?“ zum Messen ein. Die Frage nach der Form eines Gegenstandes lädt den Schüler ein, die Tätigkeiten zu vollziehen, welche zur Formauffassung gehören, die Frage „Warum?“ fordert zum Suchen von Gründen auf usw.“ (Aebli 1968, 141). 

Wer jahrelang solchermaßen Wissen über die Welt erworben hat, kann später die richtigen – oder auch als kreative Leistung ungewöhnliche, unbeachtete – Fragen an einen Gegenstand stellen. Man darf hier nur nicht den Weg mit dem Ziel verwechseln: Nicht der Schüler, der jahrelang selbst fragen musste und dabei viel Zeit verloren hat, ist später der Erwachsene, der auf einer Führung oder Ausstellung am meisten Interessantes fragt. Das tun die Sachkundigen, die sich viel Wissen aneignen konnten, das andere schon vor ihnen erarbeitet haben. 

So schafft letztlich „das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch eine sehr natürliche Erkenntnissituation. Der Lehrer sieht den Schüler vor dem neuen Gegenstand. Er weiß, was es daran festzustellen gibt. Aber nicht nur das. Als Pädagoge weiß er auch auf welche Weise der Schüler diese Erkenntnis selbst gewinnen kann. Er teilt ihm daher nicht das fertige Ergebnis mit, sondern leitet ihn zum Vollzug der Erkenntnisakte, zur Anwendung der Auffassungstätigkeiten und Gesichtspunkte an, von denen er weiß, daß sie zum gewünschten Ergebnis führen. Die Antwort des Schülers zeigt ihm, ob er den Erkenntnisakt richtig durchgeführt hat. Der Schüler seinerseits arbeitet am Gegenstand, setzt sich mit ihm auseinander, wendet seine geistigen Werkzeuge an und versetzt sich damit nach und nach in die Lage, einen ähnlichen Gegenstand selbständig, ohne die Hilfe des Lehrers, zu bewältigen.“ (Aebli 1968, 142)

Ich habe den Eindruck, dass manche Lehrkräfte unterschätzen oder geringschätzen, in welchem hohem Maße sich das Lernen nuneinmal im Kopf abspielt; folglich betonen sie zu sehr den Einsatz der Sinne und behandeln in der Trias „Kopf, Herz und Hand“ den Kopf eher stiefmütterlich. Geistige Werkzeuge sind jedoch nichts minderwertiges, im Gegenteil. Freilich ist es schön und gut, wenn jemand handwerklich geschickt seine Hände einsetzt oder sich im Sport gekonnt seines Körpers bedient. Aber ein riesiger Teil dessen, was wir lernen dürfen, erfordert nun einmal geistige Werkzeuge, nicht physische, und das ist ebenfalls gut. Nur deshalb kann ein Mensch wie Stephen Hawking trotz extremer körperlicher Einschränkungen ein Niveau an Wissen erreichen, das körperlich fitteren Menschen verwehrt bleibt – ist es nicht wunderbar, wozu der menschliche Geist im Stande ist?

Wie vermeidet man das zähe „Antworte im ganzen Satz“?

Hans Aebli hat noch einen Tipp für den Praktiker: Viele Lehrkräfte sind es leid, die Schüler dauernd zu ermahnen „Antworte in einem ganzen Satz!“. Wenn man fragt „Wie viele Kelchblätter siehst du?“, liegt es aber nahe, dass der Schüler antwortet: „Fünf!“. Bessere Chancen auf Antworten in ganzen Sätzen oder zumindest vielfältigeren sprachlichen Formen hat man mit einer Handlungsaufforderung, bei der man es den Schülern überlässt, die Antwort zu formulieren. Man kann z.B. sagen „Zählt die Kelchblätter!“, und ein aufgerufener Schüler kann antworten „Bei mir sind es fünf“ oder „Ich zähle fünf Kelchblätter“ etc. (Aebli 1968, 144). Die Aufforderung wirkt „weniger suggestiv auf die Formulierung der Antwort“ und trägt daher mehr zur sprachlichen Ausdrucksfähigkeit der Schüler bei (ebd.). 

 

Wenn Sie mehr darüber wissen wollen was wir von Hans Aebli lernen können, lesen Sie doch auch noch diesen Artikel.

 

Literatur:

Aebli, Hans: Grundformen des Lehrens: Eine allgemeine Didaktik auf kognitionspsychologischer Grundlage; Klett, Stuttgart, 5/1961.