Heute fragte ich mich zum gefühlt 864. Mal: Warum wird Förderdiagnostik nicht schon in der Lehrerausbildung als zentrales Element vermittelt? Nicht unbedingt irgendwelche ausgefinkelten Finessen, aber die Basics? Wie das Erkennen von Schülern, die durch Zählstrategien und mangelndes Verständnis des Dezimalsystems rechenschwach zu werden drohen? Schüler und Lehrer würden enorm davon profitieren, wenn dieses Wissen zum Schulalltag gehörte. Die Schüler wären sicherer im Rechnen, und die Lehrkräfte hätten das befriedigende Erlebnis, genau zu wissen, welche Denkstrukturen sie bei jedem Kind gerade aufbauen.

Anlass für dieses Déja-vu in meiner Praxis war ein Schulkind, 2. Klasse Grundschule, mit seiner Mama. Die Mutter plagt ein ungutes Gefühl bei den Hausaufgaben, weil sie den Eindruck hat, das Kind wäre nicht sicher im Rechnen. Deshalb hatte sie auch schon bei der Lehrkraft vorgesprochen, die sie aber beruhigte: Die Noten liegen zwischen 2 und 3, das Plusrechnen ginge immer leichter als Minus. Ansonsten sei die Klasse sehr stark, weswegen das Kind mit seinen eigentlich normalen Leistungen vielleicht gefühlt zu schlecht wegkäme. Ja, das kann in manchen Fällen die richtige Erklärung sein. Also alles in Ordnung?

Nein, diesmal nicht, denn das schlechte „Gefühl“ der Mama beruht auf einigen Beobachtungen, die ihr zu Recht Sorgen machen:

  • Das Kind zählt häufig noch immer beim Rechnen (im zweiten Halbjahr der 2. Klasse!),
  • es versteht nicht, warum bestimmte Rechenwege eine Erleichterung darstellen,
  • und das Besprechen geschickter Lösungswege dauert so lange, dass die Hausaufgaben ohne Zählen nicht fertig würden.
  • Also lässt die Mutter das Zählen immer wieder zu, damit das Kind nicht noch länger an den Hausaufgaben sitzen muss.

Das ist noch keine systematische Förderdiagnostik – die kann man von Eltern auch nicht erwarten. Aber es ist die gedankliche Durchdringung, die man sich von jeder Lehrkraft wünschen würde. Und es sind gute Gründe, einen Termin für förderdiagnostische Beratung zu vereinbaren.

Beim ersten Arbeiten mit dem Kind zeigt sich bald die wahre Sachlage: Probleme, die im Unterricht nicht erkannt und angepackt wurden, setzen sich zu Hause fort und werden dort verstärkt.
Das Kind zählt bei fast allen Rechnungen. Natürlich geht das Zählen vorwärts schneller als rückwärts, deshalb ist es beim Plusrechnen im Bereich bis 100 relativ flott, während das Minusrechnen länger dauert, weil es da rückwärts zählt. Entsprechend entstehen auch beim Minusrechnen mehr Fehler und bei beiden Rechenarten die typischen Fehler um 1 (da die Ausgangszahl bisweilen mitgezählt wird).

Erleichterungen und „Rechentricks“ wie „Rechne zuerst mit den Zehnern, dann mit den Einern“ oder „Geh bis zum Zehner und dann weiter“ sagen dem Kind nichts, weil es primär Zählen als Strategie verwendet. Wenn man zählt, ist es aber gleichgültig, ob man 25 – 7 oder 25 – 4 rechnen soll. Beide Aufgaben sind gleich schwierig, nur zählt man im einen Fall 7 Schritte rückwärts und im anderen 4. Den Rechenvorteil, bei 25 – 4 den Zehner nicht „anbrechen“ zu müssen, bei 25 – 7 hingegen schon, kann man gar nicht denken, wenn man primär zählt. Das versteht nur, wer in Mengen denkt und die Eigenheiten des Dezimalsystems verstanden hat.

Da dem Kind dennoch „Rechentricks“ erklärt werden, bahnt sich eine weitere Gefahr an: Es ist stolz, ein paar solcher Sprüche auf gut Glück hersagen zu können, obwohl es sie nicht wirklich versteht. Damit besteht das Risiko, dass es das Rechnen als eine Ansammlung von Tricks auffasst und sich eigene Taktiken suchen wird, von denen es sich Erleichterung erhofft. Dann würden zusätzlich falsche Denkmuster eingeschliffen, so wie bereits jetzt das Zählen nur schwer zu unterdrücken ist. (Das Kind hat ja auch noch keine Alternative, da bleibt ihm nichts anderes.)

Dazu passt, dass das Kind berichtet, über Rechenprobleme werde im Unterricht normalerweise nicht intensiv nachgedacht. Es sagt, Fragen der Art „Wie groß darf die Zahl höchstens sein, die ich von 25 abziehen kann, ohne den Zehner umtauschen zu müssen?“ würden normalerweise nicht thematisiert. Das glaube ich ihm, denn es passt zur nächsten Beobachtung:

Eigentlich wird im Unterricht eines der besten erhältlichen Lehrwerke für Grundschulmathematik verwendet, nämlich „Mein Mathebuch“ aus dem Oldenbourg Verlag. Das Buch zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass es in der optischen Strukturierung endlich einigermaßen die von Wellenreuther geforderten Prinzipien erfüllt und von den exzellenten japanischen Schulbüchern gelernt hat.

Es bietet auch inhaltlich sehr viele Aufgaben, die dem Lehrer eine kontinuierliche Förderdiagnostik erleichtern, und es schafft einen roten Faden von der sinnvollen Material- und Fingerverwendung über die Ablösung davon zur vereinfachten schriftlichen Darstellung. Dazu würde z.B. gehören, Mitte der 1. Klasse mit den Schülern aus Streichholzschachteln einfache „Zehner“ (eine blaue Schachtel mit 2×5 Erbsen darin) anzufertigen, diese täglich zu verwenden (vgl. Aebli – Psychologische Didaktik) und dann nach und nach zu einer schrittweise abstrahierten Darstellung dieser Anschauungsmittel überzugehen. Mit „verwenden“ ist gemeint, dass diese Schachteln nicht im Klassenzimmer liegen, sondern im Mäppchen und auch bei den Hausaufgaben verwendet werden. Wie gerne würde ich einmal einen Elternabend sehen, an dem nicht das Ziel des Wandertages besprochen wird, sondern der sachgerechte Einsatz solcher Hilfsmittel bei den Hausaufgaben! Gute Lehrkräfte stellen auch für schwächere Schüler von Anfang an eine gründliche Erarbeitung der Bündelungsoperationen und ihrer Verschriftlichung sicher. Aber wenn eine Lehrkraft nicht nutzt, was das Buch ermöglicht, sondern es als reine Sammlung schriftlich zu lösender Aufgaben betrachtet, dann kann selbst das beste Buch seinen Effekt nicht entfalten.

Und warum zählt das Kind überhaupt, anstatt in Zehnerbündeln zu denken? Weil erstens die Bündelung und das Dezimalsystem nicht hinreichend erarbeitet wurde und weil zweitens die Zerlegungen der 10 nicht automatisiert sind. Selbst jetzt, nach 1,5 Jahren Unterricht, weiß das Kind nicht sicher, ob man die 6 in 4 und 2 oder eher 4 und 3 zerlegen kann. Das ärgert mich besonders, weil ich selbst die Zerlegungen der Mengen bis 5 nach Gaidoschik mit diesem Kind in der Vorschule erarbeitet und automatisiert habe. Ich war glücklich, alle Vorschüler mit sinnvollem Fingereinsatz und einer Gewöhnung an die entscheidenden Übungsformen in die Grundschule entlassen zu können. Man hätte dies nur für die Zerlegungen der 10 fortsetzen müssen und die Situation wäre eine grundlegend andere. Ich kann daher auch ausschließen, dass die Probleme in diesem Fall auf mangelnde kognitive Fähigkeiten des Kindes zurückzuführen sind, denn ich habe bereits ein Jahr lang mit ihm gearbeitet und kenne sein Lernverhalten und sein Auffassungsvermögen.

Kurz gesagt ist das Kind, was die mathematischen Operationen angeht, etwa auf dem Stand des zweiten Halbjahres 1. Klasse. Es kommt aber bald in die 3. Klasse.

Und nun, was tun?

Immerhin ist der Mutter jetzt und nicht erst später aufgefallen, dass etwas im Argen liegt. Bis Schuljahresende wird nur noch wenig neuer Stoff hinzukommen, so dass noch eine gewisse Pufferphase gegeben ist. Wir können nur hoffen, dass die Lehrkraft dieser „starken Klasse“ nicht vom Ehrgeiz gepackt wird und das Einmaleins noch ein wenig aufschiebt. Es würde das Verständnis dieses Kindes momentan weit übersteigen, da es nicht in Mengen denkt und Schwierigkeiten damit hat, Ziffern verschiedene Bedeutungen zuzuweisen.

Es werden aber anstrengende Wochen werden, denn im Grunde muss der gesamte Inhalt der letzten zwei Halbjahre neu erarbeitet werden. Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit häuslicher Übung: Das ist mehr, als man Eltern zumuten kann. Dabei wurde das Problem nicht einmal von der Lehrkraft erkannt –  sie denkt ja, es wäre eigentlich alles in Ordnung!

Ein wöchentlicher Termin bei mir ist auf Dauer finanziell nicht machbar; ich bin auch kein Nachhilfe-Institut, sondern betreibe eine vormittags geöffnete Praxis für Förderdiagnostik. Staatliche Leistungen sind weder kurzfristig noch ohne problematische psychiatrische Gutachten zu bekommen. Die Schule hat an Förderung wenig zu bieten, man wird bei der Lehrkraft nachfragen, aber ich bin pessimistisch, und einen sinnvollen Förderkurs gibt es nicht.

Also muss die Mutter selbst ran. Was kann man ihr ohne pädagogische Ausbildung zumuten und zutrauen? Am besten, das Schulbuch nocheinmal von vorne anzufangen, denn seine Struktur ist gut. Besonders die vielen förderdiagnostisch relevanten Fragen, bei denen die Kinder einander ihre Lösungswege erklären müssen, sollte sie nutzen. Mutter und Kind sollen für die Erarbeitung die Streichholzschachteln mit den Erbsen tatsächlich basteln und intensiv verwenden.

Zur ersten Automatisierung wird eine von mir erstellte Kartei mit den Zerlegungen der 10 nach Gaidoschik verwendet. Deren sicheres Beherrschen wird mindestens zwei Wochen Training erfordern. Darüber hinaus ist Übung immer erst nach einem komplett verstandenen Erarbeitungsschritt angesagt. Momentan würde jede weitere Übung (also das wiederholte Rechnen von Aufgaben mit dem Ziel „Leistungssteigerung pro Zeit“) nur dazu führen, dass das Kind weiter abzählt.

Alle paar Wochen ist ein Termin mit mir drin, an dem ich zentrale Erarbeitungsfragen mit dem Kind kläre und das weitere Vorgehen plane. Eigentlich müssten die Hausaufgaben ausgesetzt werden, da sie momentan mehr schaden als nützen. Alles auf eigene Kosten, auf eigene Zeit, entgegen der Einschätzung der Lehrkraft.

Und wieder frage ich mich: Wie viele Kinder werden noch hier sitzen, weil Förderdiagnostik nicht als selbstverständlicher Teil des Lehrerberufs betrachtet wird – weder in der Ausbildung, noch der alltäglichen Praxis? Wie soll guter Unterricht stattfinden, wenn die Basis für Differenzierung und individuelle Beobachtung fehlt? Mein Traum wäre ein Kurssystem mit Leistungsgruppen in jedem Fach anstelle von Parallelklassen. Aber in Zeiten der entgegengesetzten Tendenz, alle Unterschiede zu verwischen, anstatt förderdiagnostisch genau hinzusehen, wird das wohl noch lange ein Traum bleiben.