Dies ist der zweite Teil der Reihe „Testdiagnostik“. Heute geht es um eine nüchterne Abwägung zu den Vor- und Nachteilen von Testverfahren (Intelligenztests und andere).

Nach Meinung fachkundiger Kritiker sind folgende wichtige Nachteile der psychologischen Tests zu nennen:

  • Das Augenmerk psychologischer Tests richtet sich nur auf den zu untersuchenden Schüler und andere Personen und Lernbedingungen aus dem Umfeld werden nicht einbezogen. Die Ursachen für Lern- und Verhaltensprobleme werden in der untersuchten Person gesucht; die Lern- und Lebenssituation bleibt als mögliche Ursache weitgehend unberücksichtigt.
  • Die meisten Testverfahren decken lediglich Fördernotwendigkeiten auf und die wenigsten verweisen auch auf Fördermöglichkeiten. In Testergebnissen werden vorwiegend Stärken und Schwächen benannt ohne dass daraus mögliche Förderstrategien und Therapieansätze abgeleitet und entwickelt werden oder gar entsprechende Interventionsprogramme angeboten werden.

Dem stehen einige klare Vorteile gegenüber:

  • Die standardisierte Durchführung, Auswertung und Interpretation reduziert den Einfluss subjektiver Perspektiven, Einstellungen und Vorurteile auf ein Minimum. Jeder Benutzer stellt die gleichen Aufgaben oder Fragen und bewertet die Antworten und Lösungen auf die gleiche Art und Weise. Gleichwohl ist beim Aufeinandertreffen von zwei Menschen eine gegenseitige subjektive Beeinflussung niemals komplett auszuschließen.
  • Die vorgelegten Aufgaben und der gesamte Test sind auf Qualität und Güte geprüft. Dieser Prüfprozess wird im Testhandbuch in allen Einzelheiten beschrieben und ist damit für jeden kompetenten Benutzer nachvollziehbar. Jeder Nutzer weiß somit um die Möglichkeiten und Grenzen eines psychologischen Tests und kann auf dieser Basis entscheiden, inwieweit sein Einsatz hilfreich und sinnvoll ist.
  • Die statistischen Normen bieten einen Vergleich mit der Leistungsfähigkeit Gleichaltriger und erlauben somit eine Interpretation der Testergebnisse als altersgemäß, über- oder unterdurchschnittlich.
  • Mit Hilfe der statistischen Vergleichswerte aus der Normierung können die Testergebnisse eines Probanden in verschiedenen psychometrischen Verfahren miteinander verglichen werden. Dies ist notwendig, wenn zum Beispiel Legasthenie festgestellt werden soll. Die Leistungen eines Schülers in einem Intelligenztest (Anzahl der gelösten Aufgaben) müssen dabei mit denen in einem Lese-Rechtschreibtest (Anzahl des Lese- und Rechtschreibfehler) verglichen werden. Gemäß der Diskrepanzdefinition liegt nur dann eine Legasthenie vor, wenn die Intelligenzleistung durchschnittlich ist und die Lese-Rechtschreibleistung deutlich schlechter. In wieweit eine Anzahl von gelösten Aufgaben altersgemäß ist und mit einer Anzahl von Lese- oder Rechtschreibfehlern korrespondiert oder eben nicht, ist nur über einen gemeinsamen Vergleichsmaßstab zu entscheiden, der über die Normierung der psychologischen Tests zur Verfügung gestellt wird.
  • Des Weiteren ergibt sich durch die Normierung die Möglichkeit, Testergebnisse von Probanden aus unterschiedlichen Populationen miteinander zu vergleichen. Die Leistungen eines Schülers in einem Intelligenztest können beispielsweise zu den Leistungen von gleichaltrigen Schülern aus der Regelschule oder zu den Leistungen von Schülern aus Förderschulen oder zu denen von  jüngeren und älteren Schülern in Beziehung gesetzt werden.

Dies ist ein Teil der Artikelreihe „Testdiagnostik“. Alle dazugehörigen Artikel finden Sie unter diesem Schlagwort.

Hier geht es zum ersten Artikel der Reihe: „Diagnostische Inkompetenz deutscher Lehrkräfte.“

 

Literaturhinweis:
Breitenbach, E. (2014): Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer