Wir haben zu unserem Artikel über den Film „Alphabet“ und seine unrealistischen Versprechungen vom Lernen ohne Anstrengung eine interessante Zuschrift von einer Sozialpädagogin erhalten, die zugleich Mutter mehrerer Kinder ist. Sie möchte wissen, was wir über den Wert von  „Beziehungen“ für das Lernen denken, und schreibt uns:

„einen schönen guten tag, ich habe aufgrund eigener unsicherheiten, ob mein jüngster sohn (7.kind ) , der die 2.klasse besucht , wohl ausreichend flüssig liest, ihre internetseite entdeckt und ein wenig gelesen. ein paar behauptungen haben mich nachdenklich gemacht, unter anderem die kritik an dem film ALPHABET. ich selber bin familientherapeutin und habe als vorbilder vor allem  jesper juul, gerald hüther, es geht ja darum, dass unsere schulen die individualität der kinder oftmals nicht berücksichtigen sondern alle in ein raster stecken möchte. und lernen funktioniert m.e. nach nur wenn  das kind sich auch für ein thema begeistern kann. auch wird oft mit druck und angst gearbeitet -stress , noten zeitdruck machen es vielen kindern unmöglich entspannt und selbstsicher zu lernen. ich habe 7 kinder. meine ersten 4 waren selbstläufer. schule war kein thema und nie ein problem. bis zum abi ging es easy, weil  sie mit den anforderungen alle locker klarkamen. meine letzten 3 jungs müssen sich etwas mehr anstrengen.-aber interessant ist doch das feedback der großen heute, die die ersten 7 jahre waldorfschule und die letzten bis zum abitir gymnasium erlebt haben. mein sohn -psychologe- meinte neulich noch, dass die gemeinschaftserlebnisse, das praktische lernen in der waldorfschule viel mehr hängengeblieben ist als das lernen und anschliessend sorort wieder vergessene für eine spätere klausur auf dem gymnasium. die lehrer waren ebenfalls immer entscheidend. der kontakt, die beziehungen. rspektvoller umgang und angstfreies lernen haben gefruchtet -mehr in der waldorfschule -so seine erfahrung. mich würde interessieren wir sie über den für mich imens wichtigen wert von guten beziehungen fürs lernen denken .“ (sic)

 

Eine gute Frage. Wie ist es das nun, steht und fällt der Lernerfolg mit der Beziehung zur Lehrkraft, oder ist sie nur einer von mehreren Faktoren, die das Lernen beeinflussen können? Wir haben diskutiert und dies sind unsere Standpunkte zu der Frage:

Erwin Breitenbach hat aus bildungstheoretischer Sicht darüber nachgedacht und sich von den (auch bei Waldorf-Anhängern sehr beliebtem) J. W. Goethe inspirieren lassen. Er sieht das so:

Sehr geehrte Leserin, Sie weisen mit Recht darauf hin, dass Kinder besonders gut lernen, wenn sie sich für den Lernstoff interessieren, wenn sie neugierig oder wie sie schreiben: vom Thema begeistert sind. Dieser Aussage würden die meisten ohne Zögern zustimmen. Dem kindlichen Lernen zum Beispiel in der Schule wird man jedoch nur gerecht, wenn man das eine oder andere mit bedenkt:

  • Zunächst einmal muss ein Kind auch lernen, Dinge zu tun, für die es gerade nicht begeistert ist, auf die es keine Lust hat. Nur wer das gelernt hat ist lebenstauglich. Sie kennen  sicher das Märchen von der Frau Holle, wo diese Lebenserfahrung oder Lebensweisheit den Kindern in Gestalt der Pech- und Goldmarie nahe gebracht wird.
  • Desweiteren ist Lernen keine reine Spassveranstaltung, die nur in völliger Entspannung und absolut stressfrei gelingt. Lernen bedeutet, das Überwinden einer Lernhemmung. Das Kind will oder soll etwas tun, was es nicht kann. Es ist überfordert. Nur mit Anstrengung und Mühe ist die Lernhemmung, die Überforderung zu überwinden. Danach kommt die entspannte Freude und der berechtigte Stolz über das Erreichte. Freude und Stolz sind besonders groß, wenn das Kind auf eine wirkliche Lernleistung zurückblickt. Lernen vollzieht sich also nur im Wechsel von Anspannung und Entspannung, Unlust und Lust, Mühe und Freude. „Tages Arbeit, abends Gäste! Saure Wochen, frohe Feste! Sei dein künftig Zauberwort“ belehrt der weise Knabe den nach dem Sinn des Lebens suchenden Schatzgräber in Goethes Gedicht.
  • Und nicht zuletzt fällt Interesse und Begeisterung nicht vom Himmel und in die  Kinder hinein, sondern sie wird von begeisterten Erwachsenen geweckt. Eltern, die selbst gerne und viel lesen, haben in der Regel auch Kinder, die unbedingt Lesen lernen wollen. Musikbegeisterte Eltern schenken ihren Kinder Musikinstrumente und regen sie zum musizieren an, singen viel mit ihnen und wecken so deren Interesse an der Musik. Kinder aus Familien, in denen Bildung ein hohes Gut ist, erzielen höhere Bildungsabschlüsse.

 

Miriam Stiehler hat an die Klienten aus ihrer Praxis und die vielen Diskussionen in der Fachwelt gedacht und findet: 

Natürlich freut sich jedes Kind, wenn es einen Lehrer hat, der sein Fach liebt, seine Schüler begeistern kann und aus dieser Liebe zum Fach heraus nach stetiger Verbesserung strebt. Das ist auch uns immens wichtig, darüber haben wir an anderer Stelle geschrieben. Allerdings bedeutet Beziehung meines Erachtens mehr als sich mit seinen Schülern emotional verbunden zu fühlen. Eine tragfähige und lernförderliche Beziehung zu Schülern zeigt sich in einem wertschätzenden und respektvollen Umgang mit ihnen. Wertschätzen und respektieren kann man jedoch nur das, was man gut kennt und versteht. Umfangreiches Fachwissen sowie sorgfältige Verhaltens- und Fehleranalysen tragen viel zum diesem Verstehen bei.

Angesichts der gegenwärtigen Bildungslandschaft sehe ich mit Sorge, dass wichtige Aspekte des Lernens durch eine alleinige Fokussierung auf „Beziehung“ ersetzt werden. Als Mutter und Fachfrau wäre ich sehr enttäuscht und unzufrieden, wenn ein Lehrer schlechten Unterricht böte und bei kritischen Anfragen auf seine gute Beziehung zu den Schülern verwiese, weil die doch das Wichtigste überhaupt sei. Eine gute Beziehung zum Lehrenden ist für das Lernen sicher hilfreich, aber sie ist nicht die alleinige und hinreichende Bedingung für erfolgreiche Lernprozesse. Hinzu kommt, dass die „gute Beziehung“ ein schillernder Begriff ist, unter dem jeder etwas anderes verstehen kann. Ich finde es ungünstig, etwas so Unbestimmtes und Vages als zentrale Kompetenz von Schule darzustellen.

Mich hat diese Zuschrift ein weiteres Mal daran erinnert, dass es seit langem zwei gensätzliche Standpunkte in der Bildungsdiskussion zu geben scheint. Sehr laut, plakativ und medienwirksam wird von Menschen, die selbst nie unterrichtet haben (Gerald Hüther, Jesper Juul u.a. sind da tatsächlich treffende Beispiele), die Auffassung vertreten, Lernen müsse affektgeladen, spaßig und anstrengungsfrei sein und ein allgemein verbindlicher Bildungskanon verhindere die volle Entfaltung des Einzelnen. Beziehung sei das Zentrale, alles andere vernachlässigbar.

Eher leise, fast verschämt kommt die andere, dem Mainstream zuwiderlaufende Auffassung daher, die davan ausgeht, dass zum Lernen tiefer empfunden Freude und weniger der oberflächliche, eventmäßige Spaß gehöre. Diese Freude setzt Frustrationstoleranz voraus, aber auch Fleiß, harte Arbeit und Anstrengungsbereitschaft. Es ist kein Geheimnis, dass ich selbst der zweiten Auffassung zuneige.

Mit Freude sehe ich daher, dass Vertreter der letzteren Auffassung selbstbewusster auftreten und sich nicht mehr automatisch und pauschal in die Ecke der „Tiger Moms“ (oder Dads) drängen lassen, die ihre Kinder nur auf Erfolg drillen. Manche Eltern beobachten mit Sorge die sinkenden Ansprüche – und folglich sinkenden Leistungen – und damit auch den inflationären Anstieg der Abiturienten und Studierenden. Überstürzt umgesetzte Inklusionskonzepte haben bei anderen Eltern die Frage aufgeworfen, ob ihre nichtbehinderten Kinder denn ihre volle Leistungsfähigkeit in einem Unterricht entfalten können, der auch auf extrem leistungsschwache Kinder Rücksicht nimmt. So setzen sich plötzlich Eltern intensiv mit diesen entgegengestzten Standpunkten auseinander.

Und auf einmal wird auch die Kritik verhaltener gegenüber sachlich-nüchternen Einwänden wie denen von Josef Kraus, der im Februar in sehr klaren Worten darauf hinwies, dass der vermeintliche Schulstress teils übertrieben betrachtet wird, teils hausgemacht ist. Kraus zufolge wird eine Menge Kinder schlicht aus falschem elterlichen Ehrgeiz auf eine zu anspruchsvolle Schulform geschickt, ohne dass die Eltern zu Hause erzieherisch und bildend präsent sind. Wenn diese Entwicklung der Diskussion wieder zu etwas mehr Vernunft im Bildungssystem führte und den Schülern ermöglichte, mehr aus sich zu machen, wäre ich froh. Momentan sehe ich in meiner Praxis noch viel zu viele Kinder, die auf ihrem Bildungsweg höchst unglücklich werden, weil ihre Eltern an dem selbstgewählten Spagat zwischen gefühlsbetonter, alternativ angehauchter und anstrengungsfreier Schulbildung einerseits und dem Wunsch nach hohem späteren Einkommen, hohem Bildungsabschluss und ehrgeizigem, zuverlässigem Lernverhalten andererseits scheitern. Ich sehe z.B. häufig Eltern, die beklagen, dass ihr hochintelligentes Kind freiwillig kein Buch in die Hand nimmt, aber zugleich Angst haben, ihm eine wie auch immer geartete Verpflichtung aufzuerlegen, um nur ja nicht den Spaß zu zerstören. Die vorhandene „Beziehung” ändert daran nichts, sie leidet sogar darunter, und weder Kind noch Eltern sind glücklich damit. Es ist und bleibt nunmal so: Bildung profitiert von guter Beziehung, aber sie setzt vor allen Dingen gute Lernerziehung, harte Arbeit und fachlich adäquaten Unterricht voraus.