Eltern lesen häufig in ärztlichen Gutachten, dass ihr Kind neben einer Lese-Rechtschreibstörung oder Legasthenie auch noch eine „auditive Wahrnehmungsstörung“ bzw. eine „auditive Verabeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)“ habe. Seltener tauchen in diesem Zusammenhang „Störungen der visuellen Wahrnehmung“ auf. Aufgrund der auditiven Wahrnehmungsstörungen oder AVWS verschreiben Ärzte dann logopädische Behandlung. Lehrkräfte erklären den Eltern, die Lernschwierigkeiten ihrer Kinder seien auf Wahrnehmungsstörungen zurückzuführen und empfehlen Ergotherapie oder legen mit entsprechenden Übungs- und Trainingsprogrammen selbst Hand an.

Was versteckt sich aber nun eigentlich hinter der Diagnose AVWS? Was ist unter Wahrnehmung bzw. Wahrnehmungsstörung zu verstehen und welcher Zusammenhang besteht zwischen Wahrnehmungsstörungen und der Lese-Rechtschreibstörung? Die Antworten auf diese Fragen sind gar nicht so einfach.

Von der Wortbedeutung ausgehend läge die Auffassung nahe: Wahrnehmung hat vor allem etwas mit der Aufnahme von Informationen über unsere Sinnesorgane zu tun und dabei kann es auch das eine oder andere Problem geben. Gut gedacht, aber weit gefehlt! Fachleute verstehen meist unter Wahrnehmen einen hoch komplexen Vorgang, der sowohl die Aufnahme von Informationen und ihre Verarbeitung als auch die Reaktion und Antwort darauf beinhaltet. Den theoretischen Hintergrund bilden die bereits zu Beginn der 50-iger Jahre vorgetragenen Annahmen über die unzertrennliche Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. Anschaulich beschreiben das zum Beispiel Jakob v. Uexküll in seinem Funktionskreis und Viktor v. Weizsäcker im Gestaltkreis. Später hat auch Frau Ayres in ähnlicher Weise den Prozess der sensorischen Integration erklärt und beschrieben. Diese schon etwas in die Jahre gekommenen Denkmodelle sind jedoch keineswegs veraltet und überholt, vielmehr wurden sie durch zahlreiche Forschungsergebnisse aus Neuropsychologie und Hirnforschung bis heute immer wieder bestätigt.

Dieser umfassende Begriff von Wahrnehmen  lässt zwei praxisrelevante Schlüsse zu: Einerseits verschmelzen im Prozess des Wahrnehmens Informationsaufnahme, Informationsverarbeitung mit Speichrung und das Gestalten einer Antwort zu einem Ganzen. Es gibt kein Wahrnehmen ohne Bewegen und kein Bewegen ohne Wahrnehmen. Und logischerweise gibt es dann eine reine Wahrnehmungsstörung im Sinne von gestörter Aufnahme von Sinnesreizen ebenfalls nicht. Andererseits sind offensichtlich Teilprozesse dieses komplexen Geschehens unterscheid- und denkbar, aber nie losgelöst vom Ganzen.

In seiner Theorie der funktionalen Systeme geht der Vater der Neuropsychologie, Alexander Lurija, davon aus, dass höhere geistige Funktionen wie zum Beispiel Lesen und Schreiben nur durch das integrierte Zusammenwirken zahlreicher Teilfunktionen zu einem Gesamtsystem zustande kommen. Solche Systeme lassen sich auf psychischer Ebene finden und beschreiben, mittlerweile auch recht gut auf hirnorganischer. Alle funktionalen Systeme enthalten immer Teilfunktionen,

  • die für eine angemessene Wachheit und Aktivierung sorgen,
  • die Aufnahme, Analyse und Speicherung von Informationen bewerkstelligen (eher wahrnehmende Teilprozesse) und
  • die Programmierung, Regulation und Ausführung von Aktivitäten und damit eine angemessene Antwort organisieren (eher produzierende Teilprozesse).
  • Wolfgang Jantzen ergänzt dieses Modell um einen vierten Aspekt und geht berechtigterweise davon aus, dass alle höheren geistigen Funktionen auch von emotional affektiven Geschehen begleitet werden.

Neuropsychologen verwenden die funktionalen Systeme als diagnostische Suchvektoren. Sie versuchen, die ihnen bekannten Teilprozesse einer höheren geistigen Funktion zu überprüfen, um spezifische Behandlungsansätze und Behandlungsstrategien zu finden, die das möglichst optimale Funktionieren das Gesamtsystems wieder ermöglichen. Die Lese-, Rechtschreib- oder Rechenleistungen sollen sich zum Beispiel verbessern. Dabei legen sie großen Wert auf die Unterscheidung von „Wahrnehmungs- und Produktionsstörungen“. Das bedeutet, dass einmal eher die Informationsaufnahme, Informationsverarbeitung und Speicherung betroffen sein kann und ein andermal eher das Abrufen von Gedächtnisinhalten, die Organisation, Steuerung und Kontrolle von Handlungsabläufen. Oder anders formuliert: Sie warnen vor dem allzu schnellen Diagnostizieren und Therapieren von Wahrnehmungsstörungen und das Vernachlässigen oder gar Ignorieren der Produktions- und Abrufkomponente. Einige behaupten sogar, ihrer Erfahrung nach gebe es deutlich mehr sogenannter Produktions-und Abrufstörungen und reine Wahrnehmungsstörungen seien eher seltener bei Kindern mit Lernbeeinträchtigungen zu finden.

Ein kleines Beispiel verdeutlicht, wie wichtig es ist, Wahrnehmen und Bewegen, Informationsaufnahme und Verarbeitung sowie das Produzieren einer Antwort – wo immer es geht – differenziert zu betrachten: Der Lehrer zeigt einem Jungen in der ersten Klasse – nennen wir ihn August – einen Buchstaben, den er eigentlich kennen müsste, und fragt, welcher Buchstabe das sei. August ist sich sicher, dass er den Buchstaben kennt und sucht auch offensichtlich nach dem passenden Buchstabennamen, kann ihn jedoch jetzt trotz aller Bemühungen nicht abrufen. Geht die Lehrkraft vorschnell davon aus, August habe eine Wahrnehmungsstörung, so wird sie ihm den zu lernenden Buchstaben in allen möglichen sensorischen Varianten noch einmal anbieten. Zusätzlich zum Hören und Sehen darf August den Buchstaben auf Sandpapier fühlen und als Gebäck oder in der Suppe sogar essen.

Die Lehrkraft versucht also aufgrund der angenommenen Wahrnehmungsstörung alle möglichen Wahrnehmungskanäle zu nutzen, sodass August den Buchstaben und die Verbindung zu einem Laut endlich exakt aufnimmt und verlässlich behält. Das Ganze wäre jedoch vergebene Liebesmühe, wenn Augusts Wahrnehmung völlig in Ordnung wäre und sein Problem eher auf der Produktionsseite, beim Abrufen des bereits korrekt aufgenommenen und abgespeicherten Buchstabennamens läge, Augusts Problem also mit einer Wortfindungsstörung vergleichbar wäre. In diesem Fall ginge die Wahrnehmungsförderung des Lehrers zielsicher am Problem vorbei und er ließe August mit seiner eigentlichen Problematik alleine. Ganz andere Hilfen und Förderstrategien wären nämlich angesagt, um den Abruf und die Produktion zu unterstützen und zu verbessern. Nur wenn Augusts Fähigkeit Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und zu speichern tatsächlich beeinträchtigt wäre, würde das Einbeziehen anderer intakter Sinneskanäle als Kompensationsversuch Sinn machen. 

Wie lässt sich nun möglichst schnell herausfinden, ob Augusts Lernen eher durch ein Problem des Wahrnehmens oder des Produzierens beeinträchtigt wird? Kann August den richtigen Buchstabennamen nicht nennen, bietet man ihm eine Auswahl von verschiedenen Buchstabennamen an. Erkennt er den richtigen im Lösungsangebot wieder, kann man davon ausgehen, dass er den Buchstaben korrekt wahrgenommen und abgespeichert hat, es ihm aber nicht gelingt, diesen auf Kommando abzurufen, was eher für ein Abrufproblem (also ein Problem auf der Produktionsseite) spricht. Kann der Buchstabe auch mit Hilfe einer Auswahl möglicher Lösungen nicht benannt werden, ist der Buchstabe möglicherweise nicht in Augusts Gedächtnis „angekommen“. Daher könnten auch eher wahrnehmede Teilprozesse betroffen sein.

Das Phänomen, dass es leichter fällt, die richtige Lösung aus Lösungsmöglichkeiten auszuwählen (gefordert wird hier in erster Linie die Informationsaufnahme und der Abgleich mit bereits gespeicherten Informationen) als im Langzeitgedächtnis nach bereits vorhandenen Lösungen zu suchen oder aus bereits Gelerntem eine Lösung zu generieren, kennt jeder, der einmal eine multiple-choice-Klausur geschrieben hat. Das hierbei in erster Linie benutzte Wiedererkennensgedächtnis ist das Gedächtnis, das bei uns als erstes funktioniert. Mit seiner Hilfe erkennt der Säugling z.B. das Gesicht von Mama und Papa wieder und kann sie von anderen Gesichtern unterscheiden ohne jedoch zu wissen, dass es Mama und Papa gibt. Sie existieren für ihn zunächst nur, wenn er sie wahrnehmen kann. Erst zu einem späteren Zeitpunkt gelingt ihm der eigenständige Abruf der Gesichter aus seinem Langzeitgedächtnis und er kann dann nach Papa und Mama suchen oder sie rufen.

Welche Teilfunktionen der auditiven und visuellen Wahrnehmung unterschieden werden können und wie Störungen in diesen Bereichen mit einer Lese-Rechtschreibschwäche zusammenhängen, erfahren Sie im nächsten Beitrag.