Eigentlich sehen wir Inklusion eher kritisch. Heute möchte ich eine Geschichte über ein Kind aus meiner Praxis erzählen, bei der es mir ganz, ganz wichtig war, „Inklusion“ im Sinne von „Status als Inklusionskind“, aka „Behinderter“, zu vermeiden – deren vorläufiges Happy End aber ironischerweise nicht möglich gewesen wäre, wenn es Inklusion nicht gäbe. Es ist zugleich eine Geschichte davon, was durch die ziemlich großzügige Förderung des Bezirks Oberbayern, also durch Mittel zur Prävention oder Linderung von Behinderungen, möglich wird, denn meine Hilfe fand im Rahmen einer sog. „IHM“, einer Isolierten Heilpädagogischen Maßnahme statt. Noch eine Ironie der Sache: Würde man den Behinderungsbegriff abschaffen, gäbe es diese Fördermittel nicht. Dass der Behinderungsbegriff sehr weit gefasst wird, ist dem Bezirk zu verdanken und ermöglicht so manches, was anders nicht zu leisten wäre. Aber ich fange besser vorne an.

Ende November erreichte mich der Anruf einer besorgen Mutter. Ihr Sohn wurde – zwei Monate nach der Einschulung – als „für den Unterricht untragbar“ eingeordnet. Im Gespräch mit den Eltern hatte die Grundschule auf einen Förderschulbesuch gedrängt. Die Eltern hingegen fanden ihr Kind in der Einschätzung „Förderschüler“ absolut nicht wieder. Da es keinem der Beteiligten gelang, die sehr verschiedenen Einschätzungen des Kindes aufzulösen und miteinander in Einklang zu bringen, blieb nach recht emotionalen Gesprächen bei den Eltern ein großer Vertrauensverlust zurück und seitens der Schule Kopfschütteln über die Uneinsichtigkeit der Erziehenden. Keine gute Situation, um voranzukommen. Der alte Kindergarten hatte bei den Eltern ebenfalls den Eindruck hinterlassen, bei ihrem Kind nur Defizite zu sehen. Dorthin wollten sie das Kind auf keinen Fall zurückschicken. Die Vertreter der Schule waren sowieso äußert skeptisch, ob eine Rückführung in den Kindergarten überhaupt angemessen sei oder ob man nicht direkt den Förderschulbesuch anstreben sollte. Was tun? Daher rief die Mutter bei mir an: Elternberatung, heilpädagogische Praxis, Vorschulgruppen – könnte ich irgendwie helfen?

In einem ersten Elterngespräch durfte ich die Familie kennenlernen. Die Eltern sind Einwanderer aus Osteuropa, beide sehr qualifiziert und im IT-Bereich arbeitend. Die Mutter sprach hervorragend Deutsch, der Vater gut. Ich erlebte Eltern, die sich intensiv um die Förderung ihres Kindes kümmerten – Planetenmodelle aus Pappmaché mit dem Bub bastelten, Lernspiele spielten, in Museen gingen etc. Gesundheitliche Komplikationen hatte es laut Anamnese nicht in größerem Umfang gegeben; eine starke Brille trug der Junge, aber sonst war alles in Ordnung. Auch die gängigen genetischen Syndrome schienen weder zur Physis noch zum beobachteten und berichteten Verhalten zu passen. Aber zur Erst-Anamnese gehört für mich immer auch die Geschichte der erzieherischen Überzeugungen: Was für Bücher haben die Eltern über Erziehung gelesen? Was glauben sie macht gute Eltern aus? Welche Methoden wenden sie an und warum? Womit glauben sie ihr Kind zu überfordern, zu verletzen, wovor haben sie Angst? Und worüber sind die Eltern in puncto Erziehung verschiedener Meinung? Dabei zeigte sich sehr bald, dass die Mutter sehr früh in einem für sie emotional beeindruckenden Buch gelesen hatte, Kindern müsste man alle Bedürfnisse erfüllen, sonst würden sie unglücklich und fühlten sich nicht geborgen. Aus Angst, ihr Kind könnte sich unbewusst zu wenig geliebt fühlen, tat die Mutter genau das: Jedem Wunsch nachgeben, jedes Interesse des Kindes loben unabhängig von der erbrachten Leistung, jede als Zeichen von Phantasie verargumentierbare Handlung gestatten. Der Vater sah die Erziehung eher pragmatisch, hätte eigentlich gerne einige Grenzen gesetzt, drang damit aber nicht durch – er als Mann sei eben zu streng, zu hart und fühle nicht genug mit dem Kind. Ein Beispiel: Der Bub von nun sechs Jahren konnte kaum mit Besteck essen. Saß er am Tisch und trommelte mit Messer und Gabel, anstatt zu essen, wurde er zwar vom Vater erinnert, dass er das Besteck zum Essen benutzen solle. Sagte der Junge daraufhin der Mutter „Ich bin heute aber ein Schlagzeuger“, war damit der väterliche Einwand abgetan und das Kind durfte weiter „Schlagzeuger sein“ – man solle doch die kindliche Phantasie fördern statt sie zu unterdrücken. Das ging so weit, dass der Bub inzwischen Lautstereotypien entwickelt hatte, da er ungehindert schon seit mehreren Jahren jederzeit brummend, quietschend, krächzend oder jaulend durchs Wohnzimmer laufen konnte, wenn er gerade ein Auto, eine Straßenbahn oder sonst etwas „war“.

Mangels Grenzen und Beschränkungen, mangels der Verpflichtung, rücksichtsvoll und kooperativ auf andere Menschen einzugehen, hatte der Junge nie soziales Spiel kennengelernt. Er war nicht in der Lage, im Spiel auf die Ideen anderer einzugehen und die sich daraus ergebende  Beschränkung seiner egozentrischen Perspektive zu akzeptieren. Er war in der Kleinkindphase der Egozentrik stecken geblieben und hatte sie bis zum Extrem entwickelt – daher war er nicht schulreif, denn Schulreife setzt Überwindung der kindlichen Egozentrik voraus, im Sozialen wie im Kognitiven. Ebenso hatte der Junge nie Spielausdauer entwickeln können, da eine Befriedung der Antriebe nach Paul Moor (d.h., Maß und Rhythmus für die Befriedigung von Bedürfnissen und das Ausleben von Interessen zu etablieren) nie stattgefunden hatte. Die Folge war ein Verhalten, das der Kindergarten mit Verdacht auf Autismus quittiert hatte: Ein Kind, das vollständig ignoriert, was andere ihm zu bieten haben oder von ihm wollen, das ausschließlich an seine eigenen, mangels Ausdauer und Verpflichtungen rasch fluktuierenden Einfälle und Wünsche gefesselt ist und kaum einer Aufforderung von außen nachkommt. Ein Kind, das stereotyp lautiert, obwohl es sich gewählt und akzentfrei auf Deutsch ausdrücken kann, ein Kind, das mehrfach beide Finger erst recht in die Nase steckt wenn man ihm sagt, es solle ein Taschentuch benutzen statt zu popeln, aber nicht aus Trotz, sondern weil es Gehorsam gar nicht in Betracht zieht, sondern gelernt hat, vor allem seiner aktuellen Befindlichkeit zu folgen. Ein Kind, das durch das Gegenüber hindurchzusehen scheint – außer, wenn es das Gegenüber als Publikum braucht, um etwas zu zeigen, wovon es gerade emotional angesprochen wird: „Schau, hier habe ich gemalt…. Schau, das ist ein kleiner Traktor… Schau,…“. Diese Getriebenheit, dieser stetige Wechsel hatte in der Schule dazu geführt, dass der Junge kaum einen Arbeitsauftrag ausführte, sondern stattdessen durchs Klassenzimmer lief, wenn ihm danach war; aus solchen Gründen wurde er als untragbar befunden, man kann es verstehen. Auch den Autismus-Verdacht der Erzieherinnen kann man nachvollziehen. Die überprüfende Psychiaterin stellte jedoch bereits im späten Kindergartenalter fest, dass offensichtlich eine erzieherische Komponente im Spiel war und Vieles eben doch nicht zum Autismus passen wollte. Den IQ schätzte sie an der Grenze zur Lernbehinderung ein, mangels Compliance war das Testergebnis aber nicht sinnvoll verwertbar.

Nach diesem ersten Kennenlernen und der Durchsicht der vorliegenden Akten wurde eine IHM  beim Bezirk Oberbayern beantragt. Dabei kann ein Stundenkontingent von bis zu 90 Einheiten à 45 Minuten bewilligt werden, das zum Wohle des Kindes eingesetzt werden soll. In dieser Flexibilität liegt die große Stärke des Verfahrens, wenngleich nicht jede Praxis sie so nutzt wie ich: Wir waren nach der Bewilligung frei, zu tun, was das Kind und seine Familie nun brauchte. Einerseits begann ich mit den Eltern eine Erziehungsanalyse und ein Elterntraining, bei dem z.B. der Vater übte, durch seine Körpersprache und seinen Tonfall nicht Mitleid auszudrücken, wenn er dem Bub einen Auftrag gab oder ihn warten hieß, sondern Selbstverständlichkeit und Stärke. Wir analysierten die erzieherischen Irrtümer der Familie und ersetzten sie durch fundiertere Einsichten; hier arbeite ich vor allem auf der Basis von Paul Moors Erziehungstheorie. Die videogestützte Analyse der Eltern-Kind-Interaktion ist sehr hilfreich, wenn es darum geht, konkrete erzieherische Einsichten zu erzielen und Woche für Woche erzieherische „Hausaufgaben“ für die Eltern festzulegen. Das Ganze geschieht nicht in meiner Praxis, sondern im Rahmen von Hausbesuchen, da sich meiner Erfahrung nach alle Beteiligten in ihrer natürlichen Umgebung wesentlich authentischer verhalten. Bei solchen Hausbesuchen kann man außerdem realistische Veränderungen im Alltag vornehmen, z.B. Möbel umstellen, lärmende Spielzeuge des Kindes sehen, deren Geräusche es nachahmt und den Eltern den Auftrag geben, diese einzusammeln und vorerst im Dachboden verschwinden zu lassen. Man kann an Mahlzeiten teilnehmen und das Essverhalten verändern, man kann die Eltern zusehen lassen, wie man mit dem Kind aufräumt oder spielt oder etwas arbeitet und in schwierigen Momenten vormachen anstatt nur zu erklären, wie man nun erzieherisch vorgehen sollte.

Mit meiner schriftlichen Bestätigung, bei mir in „Behandlung“ zu sein, wandten sich die Eltern nun an einen nahegelegenen Kindergarten, der sich unter der Bedingung, die „Behandlung“ werde fortgesetzt, zur Aufnahme des Jungen bereit erklärte. Unter der selben Bedingung war auch die Schule einverstanden, von einer Überprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs abzusehen und den Jungen wie im Schulrecht vorgesehen nochmals auszuschulen. Es eilte, denn die Frist dafür läuft in Bayern jeweils nur bis Ende November.

In den folgenden Monaten hospitierte ich im Kindergarten, sprach intensiv mit den Erzieherinnen, suchte mit ihnen nach besseren Reaktionsmöglichkeiten. Im Rahmen der wöchentlichen Hausbesuche konnten wir nach und nach zunächst das elterliche Verhalten und in der Folge das des Kindes verändern, auch das kleinere Geschwister fand Berücksichtigung. Nach vier Monaten stand aber die Frage im Raum, welche Schule denn nun in Frage käme; die Schulpflicht nahte schließlich unabwendbar. Trotz aller Fortschritte war zu diesem Zeitpunkt der Junge noch kein Kind, das man als unauffällig eingeordnet hätte. „Ganz normal ist der aber nicht“, mit solchen Einschätzungen musste man nach wie vor rechnen, auch wenn die Arbeitsausdauer stieg, die Stereotypien abgebaut wurden, die Beachtung anderer Menschen sich deutlich verbesserte.

Die Eltern wollten mangels Vertrauen keinesfalls einen zweiten Versuch an der ursprünglichen Grundschule wagen; auch der Schule wäre das wohl nicht ganz willkommen gewesen. Sie setzten die Hoffnung auf verschiedene Privatschulen; von der einen wusste ich durch Erfahrung mit anderen Klienten, dass dort keineswegs das Schulgeld dafür gezahlt wurde, dass man schwierige Kinder tolerierte. Privatschulen möchten den Ruf vermeiden, sie seien ein Sammelbecken für Kinder, die es anderswo nicht schafften, weil mit ihnen etwa nicht stimme. Die anderen Einrichtungen auf der elterlichen Liste waren alternative Schulen; das Montessori-Konzept erschien mir, neben genereller großer Skepsis gegenüber dieser pädagogischen Richtung, gerade für dieses sprunghafte Kind völlig ungeeignet, und die anthroposophisch-esoterische Privatschule in der Nähe, die eher als eine Art Glaubensgemeinschaft denn als professionelle Bildungseinrichtung arbeitet, noch weniger.

Eine Förderschule gäbe es im Umkreis, ja. Aber ich war dagegen. Im Studium hatte ich einen prägnanten Satz gehört, den ich immer noch unterschreibe: „Wenn man es ändern kann, war es kein Autismus.“ Und aus den Büchern von Paul Moor hatte ich gelernt: Erst der konkrete Erziehungsversuch zeigt, was wirklich möglich ist für ein Kind. Wir steckten aber mitten in diesem Erziehungsversuch. Nach sechs Jahren Fehlerziehung kann man nicht erwarten, dass in sechs Monaten alle entstandenen Schäden ausgeglichen sind. Solange dieser Erziehungsversuch jedoch die „Symptome“ der Störung abbaut, hält die Hypothese stand, dass die Probleme eben rein erzieherischer Natur sind und nicht angeboren. Da die Eltern höchst veränderungsbereit und -fähig sind, besteht die Perspektive, in einem Jahr ein ziemlich „normales“ Kind zu haben. Es gibt keinen Grund, die Sonderschulschiene einzuschlagen. Aber im Schulsprengel gibt es nur die eine Grundschule, und ein Besuch außerhalb des Sprengels wird nur an Privatschulen gestattet.

Um ihn möglichst gut auf die Schule vorzubereiten und weil der Bub sich bereits besser selbst beherrschen und kontrollieren konnte, nahm ich ihn in eine meiner Vorschulgruppen auf. Hier konnte er u.a. lernen, in einer Gruppe Gleichaltriger still zu sitzen, zuzuhören, sich geordnet an Gesprächen zu beteiligten sowie schriftliche Arbeiten im Schreiblernheft, in den Vorläuferfertigkeiten des Rechnens und Lesens zielstrebig anzufertigen. Auch dies wird von einer IHM abgedeckt und finanziert.

Ebenfalls im Rahmen meiner bewilligten Stunden recherchierte ich Schulen im näheren Umkreis – auch außerhalb des Sprengels. Und da fand sich gar nicht so weit entfernt, aber jenseits der Landkreisgrenze, eine Grundschule mit Profil „Inklusion“. Ein Gespräch mit der Schulleitung, einem kompetenten und erfahrenen Mann kurz vor dem Ruhestand, verlief äußerst positiv. Ich schlug vor den Jungen an dieser Schule als Gastschüler aufzunehmen – nicht als Förderschüler, nicht als Inklusionskind. Ich erhoffte mir, aufgrund des Profils Inklusion in dieser Schule auf Lehrkräfte zu treffen, die nicht so leicht abzuschrecken wären und uns mit ihrer Geduld ein Jahr mehr Zeit verschaffen, das wir brauchen, um weitere Verbesserungen und eine verlässliche Stabilität in der Persönlichkeit des Jungen zu erzielen. Die Schule war einverstanden.

Zustimmen mussten aber noch: Das Rathaus der aufnehmenden Gemeinde, das Rathaus der abgebenden Gemeinde (denn diese zahlt einen vierstelligen Betrag an die Gastschule) sowie die abgebende Schule. Und natürlich: Die Eltern. Diese waren skeptisch, als sie „Profil Inklusion“ hörten und setzten ihre Hoffnung immer noch auf die Privatschulen. Aber das Vertrauen zwischen uns war mittlerweile groß genug, dass sie meinem Vorschlag eine Chance gaben. Sie wurden umgehend an der potentiellen Gastschule vorstellig und schickten den Jungen für einen Vormittag dort in den Probeunterricht. Gott sei Dank erhielten sie zusätzlich von allen Privatschulen bis auf eine Absagen und waren begeistert von der toleranten und herzlichen Aufnahme in der „Inklusionsschule“. Der Gastschulantrag wurde gestellt, und ich telefonierte mit sämtlichen beteiligten Stellen, um den Fall zu schildern und um Bewilligung zu bitten. Auch dies war nur möglich, weil zur Einzelfallarbeit im Rahmen einer IHM eben auch solche Maßnahmen zum Wohle eines Kindes gehören können. 

Nun mussten wir warten auf den Bescheid. Solange ging es einfach weiter wie gehabt. Bis Schulbeginn haben wir noch genug Stunden im Rahmen der IHM zur Verfügung, um so weiterzuarbeiten wie bisher. Für Schulkinder ohne offiziell festgestellte Behinderung hingegen gibt es keine IHM, da muss man sich ans Jugendamt wenden, das nur in Ausnahmefällen externe Fachleute wie mich beauftragt und auch das nur anhand eines aufwändigen kinderpsychiatrischen Gutachtens, das letztlich wieder eine Behinderung oder zumindest schwere Störung feststellt. Ab September müssen die Eltern dann entweder für meine weitere Unterstützung selbst bezahlen oder ihr Kind als behindert klassifizieren lassen. Das System ist hilfreich, aber auch verrückt. Andererseits ist jeder selbst verantwortlich für das, was er bei seinen Kindern anrichtet, und es ist nicht unbegrenzt Aufgabe der Gemeinschaft, für den Ausgleich dieser Probleme finanziell aufzukommen.

Endlich fiel die Entscheidung – das telefonische OK kam gestern, der schriftliche Bescheid ist in Zustellung, der Gastschulantrag ist genehmigt, ausnahmsweise. Der Weg ist geebnet – eine Schule, die nur weil sie Inklusion betreibt auch gegenüber schwierigen Regelschülern so tolerant sein kann, nimmt ein Kind auf, das nicht behindert ist, aber schwer fehlerzogen, damit es nicht eine Schulkarriere als Inklusionskind beginnen muss, sondern eine Chance hat, einen ganz normalen Bildungsweg zu gehen, wenn seine Eltern ihre Fehler der ersten Lebensjahre erfolgreich korrigiert haben. So gestaltet sich die Odyssee durchs Bildungssystem 2018.