In der Schule lernen Kindern zweifelsfrei wichtige und nützliche Dinge. Alles Mögliche in und um uns herum wird zum Lerngegenstand gemacht, kaum aber unser Gedächtnis und der Vorgang des Lernens selbst. Die Fragen wie das Gedächtnisses funktioniert und wie man es am effektivsten nutzt, ist bestenfalls Thema am „Lernen lernen Projekttag“, aber nicht im regulären Unterricht. Und dies, obwohl die Bedingungen für das Aufnehmen und Einspeichern von Informationen, deren Konsolidierung und Sicherung sowie ihr Abruf für erfolgreiches Lernen von größter Bedeutung sind.

Man kann das Gedächtnis als eine Abfolge einzelner „Arbeitsschritte“ betrachten, die sich in einem Kreislaufprozess ständig wiederholen. Die Schritte in diesem Kreislauf sind Einspeicherung, Konsolidierung, Ablagerung und Abruf – und über die erneute Encodierung beginnt der Kreis von vorne (siehe Abb. 1). Wenn man das Gedächtnis so betrachtet, kann man für das Lehren und Lernen wichtige Schlüsse daraus ziehen.

Abb. 1: Stufen der Informationsverarbeitung zur Bildung neuer Gedächtnisinhalte und deren Abruf 

Warum hilft es Schülern beim Vokabellernen, wenn sie die Vokabeln z.B. nach Tierarten, Fahrzeugen, Nahrungsmitteln gruppieren?

Beim Einspeichern muss man zwischen neuen Informationen und bereits im Langzeitgedächtnis gespeicherten Informationen Assoziationen knüpfen. Das neue Wissen muss mit dem alten verbunden werden. Diese Einspeicherprozesse und natürlich auch der spätere Abruf profitieren vom gezielten Einsatz von Lern- und Gedächtnisstrategien:

Gruppieren

Unser Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis ist in seiner Kapazität beschränkt. Erwachsene können zwischen fünf und neun Merk-Einheiten (7 +/- 2) aufnehmen und wiedergeben. Solche Informationseinheiten werden „Chunks“ (Stücke oder Teile eines größeren Ganzen) genannt. Wir können sie selbst bilden, indem wir Einzelelemente (z.B. Zahlen oder Buchstaben) auf der Basis von Organisationsprinzipien gruppieren. So fällt das Lesen und Merken von Telefonnummern schon wesentlich leichter, wenn diese gruppiert werden. Statt der Zahlenfolge 3-7-4-6-8-2-1- 0 merken wir uns 37-46-82-10. Dadurch reduzieren wir die ursprünglich acht Chunks auf vier. Das Gleiche gilt natürlich auch für Buchstaben und Wörter. Möchten wir uns die Buchstabenfolge G-R-U-P-P-I-E-R-E-N-H-I-L-F-T-B-E-I-M-L-E-R-N-E-N merken, wären wir alle heillos überfordert. Ordnen wir die Buchstaben nach Sinn und fassen sie so in Buchstabengruppen zusammen (GRUPPIEREN HILFT BEIM LERNEN), gelingt uns das problemlos und leicht. Zum Strukturieren und Ordnen von Lernstoff können alle möglichen Organisationsprinzipien oder Kategoriensysteme benutzt werden. BeimLernen von Vokabeln ist beispielsweise eine Gruppierung nach inhaltlichen (Tiere, Nahrungsmittel, Fahrzeuge, . . .) oder phonematischen Gesichtspunkten (Anfangsbuchstaben, . . .) hilfreich.

Sprachliche Hilfen

Bei den sprachlichen Hilfen sind Merksätze oder Merkverse besonders beliebt. So empfiehlt z.B. der Musiklehrer seinen Geigenschülern, sich die Reihenfolge der Saiten auf der Violine (G-D-A-E) mit dem Satz „Geh Du Alter Esel“ zu merken. Auf ähnliche Weise kann man sich die Reihenfolge der Planeten unseres Sonnensystem von innen nach außen einprägen: aus „Merkur-Venus-Erde-Mars-Jupiter-Saturn-Uranus-Neptun-Pluto“ wird mit Hilfe dieser Lernstrategie „Mein Vater Erklärt Mir Jeden Sonntag Unsere Neun Planeten“ (Falls man sich der Position anschließt, dass Pluto kein Planet mehr ist, lautet der Spruch: „Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unseren Nachthimmel“…). Rechtschreib- und Verhaltensregeln oder die Schreibweise einzelner Wörter in einen Merkvers gegossen, vergessen wir ebenfalls nicht mehr so schnell: „Sei nicht dumm und merk dir bloß, Substantive schreibt man GROSS“, „Nach dem Klo und vor dem Essen – Händewaschen nicht vergessen“ oder „Wer nämlich mit h schreibt ist dämlich“.

Visualisierung

Visualisierung gelingt real mit Hilfe konkreter Dinge, Abbilder und Modellen oder mental durch das Bilden visueller Vorstellungen. Der realen Visualisierung dienen Tabellen, Diagramme, Prozessablaufschemata, Piktogramme, Schaubilder… . Denken sich Schüler selbst solche Visualisierungen aus, setzen sie sich besonders intensiv mit den Lerninhalten auseinander und verankern sie so fest im Gedächtnis. Auch farbliche Hervorhebungen und Markierungen von Gleichem oder Zusammenhängendem helfen. Die mentale Visualisierung meint nicht die visuelle Präsentation oder Unterstützung aufzunehmender Informationen, sondern die Bildung eigener visueller Vorstellungen im Zusammenhang mit Lerninhalten. So kann eine Lehrkraft z.B. ihre Schüler und Schülerinnen beim Rechnen dazu anhalten, sich Bilder, Vorgänge oder Handlungen zum Rechnen vorzustellen. Mengenbilder wie 2×5 Punkte in einem Rechteck wären eine solche hilfreiche Visualisierung.

Auswendig lernen

Gemeint ist hier das allen wohl vertraute, gezielte Einprägen von Lerninhalten durch häufige Wiederholungen. Das Paradebeispiel hierfür ist das Vokabellernen mithilfe von Karteikarten. Wichtig ist dabei, dass man mit den Wiederholungen nicht aufhört, sobald man die Vokabeln kann oder ein Gedicht einmal auswendig hersagen kann, sondern darüber hinaus noch einige Wiederholungen vornimmt und sich nach kürzeren und auch längeren Pausen erneut abfragt und die vergessenen Teile durch erneutes Wiederholen ergänzt. Die Fachleute sprechen hier von Überlernen.

Bei der Teil-Methode lernt man eine Abfolge sukzessive, Teil für Teil und setzt die Teile dann zum Ganzen zusammen. Ein Schüler soll ein Gedicht lernen und nimmt sich zu diesem Zweck zunächst jede Strophe einzeln vor und versucht dann, das Gedicht als Ganzen aufzusagen. Manchmal kann jedoch die Ganz-Methode angezeigt sein, z.B. bei kürzeren Texten oder Gedichten. Grund dafür ist, dass bei dieser Methode der Sinnzusammenhang das auswendig lernen unterstützt und erleichtert.

Assoziationen

Assoziationen mit Orten und Wegen (Loci-Methode) und Assoziationen mit Zeiten (Geschichtentechnik) sind Gedächtnisstrategien, die weder von Kindern noch von Erwachsenen spontan angewendet werden. Sie sind Kunstformen, die eintrainiert werden müssen. Die Loci-Methode erfordert, dass man sich zunächst eine Abfolge bekannter Orte (z.B. eigener Körper: Fuß-Knie-Oberschenkel-Gesäß-Hüfte-Bauch- …) oder Wege (Reihenfolge der Geschäfte, an denen man auf dem Weg von zuhause zur Schule vorbeikommt) erstellt und dann mit diesen Reihen immer wieder neu zu lernende Inhalte assoziativ verknüpft. Die Reihenfolge der Planeten in unserem Sonnensystem ließ sich z.B. auf diese Weise ebenfalls gut lernen. Bei der Geschichtenmethode dient ein zeitlicher Ablauf, z.B. der eigene Lebenslauf, als Grundliste, mit der wiederum einzelne Informationen verbunden werden.

Wie lange dauert es, bis Wissen sicher gespeichert ist, und warum hilft Schlafen dabei?

An die Einspeicherung schließt sich die Konsolidierung, Festigung oder Stabilisierung der gebildeten Verknüpfungen zwischen neuen und bereits bestehenden Gedächtniseinheiten an, wodurch eine längerfristige Speicherung sicher gestellt oder zumindest wahrscheinlicher wird.

Über die Länge der Konsolidierungsphase herrscht in der Fachwelt noch große Uneinigkeit. Die Angaben reichen von Stunden oder wenigen Tagen bis zu Monaten und Jahren. Konsolidierte Informationen sind im Langzeitgedächtnis dauerhaft abgelegt und können grundsätzlich jederzeit abgerufen werden.

Der überwiegende Teil der Konsolidierung passiert während des Schlafens und Träumens, weshalb für Kinder ein ausreichender Schlaf so wichtig ist. Nicht umsonst besitzen Säuglinge, die einer ständigen Flut neuer Informationen ausgesetzt sind, ein so überaus großes Schlafbedürfnis. Während wir schlafen und uns erholen, sind bestimmte Teile unseres Gehirns jedoch sehr aktiv. Hirnforscher wissen schon lange um die Bedeutung des Hippocampus für Gedächtnisleistungen. Der mitten in unserem Gehirn liegende Hippocampus verfügt über enge Verbindungen zur Großhirnrinde (Neocortex) und fungiert im Tiefschlaf quasi als Lehrer des Neocortex (siehe Abb. 2). Neu Gelerntes wird vom Hippocampus im Tiefschlaf wiederholt aktiviert und dem Neocortex immer wieder angeboten und vorgespielt. Auf diese Weise konsolidiert der prinzipiell langsam lernende Neocortex das, was während des Tages in einem anderen Speicher nur zwischengelagert war. Neuere Untersuchungen zeigen, dass in den Träumen immer wieder Tagesreste auftauchen und dass in den Traumphasen bestimmte neuronale Aktivierungsmuster zu beobachten sind, die im Wachzustand bestimmte Verhaltensweisen begleiten. Im Traumschlaf, so nehmen die Forscher an, werden neu gelernte Inhalte noch einmal abgespielt (Replay). Über den tieferen Sinn dieses Abspielens kann man bisher nur Vermutungen anstellen. Aber es liegt nahe, dass es ebenfalls der Konsolidierung von Gedächtnisinhalten dient.

Abb. 2: Aktivierung der Großhirnrinde durch den Hippocampus während des Tiefschlafs

Es ist daher nicht altmodisch, sondern sinnvoll, bei Babys und Kleinkindern auf feste Schlafenszeiten zu achten und bei ihnen frühzeitig die Kompetenz aufzubauen, bei kurzem nächtlichem Hochschrecken wieder alleine in den Schalf zurück zu finden. Kinder im Grundschulalter sollten um die 10 Stunden jede Nacht ungestört schlafen, damit die am Tag zuvor begonnen Lernprozesses im Tiefschlaf und Traum abgeschlossen und stabilisiert werden können. Ungünstige Schlafgewohnheiten (zu spät ins Bett gehen; unterschiedliche und unregelmäßige Schlafzeiten und Schlafdauer; schlafen am Tag) und psychische und motorischen Aktivierung, Erregung und Anspannung vor dem Schlafengehen (spannende Filme, herumtoben) führen zu einem ungesunden, nicht erholsamen Schlaf und im schlimmsten Fall zu Schlafstörungen, was wiederum eine massive Beeinträchtigung des Lernens nach sich zieht. Auch Studierende, die so gerne vor Prüfungen Nachtschichten einlegen, rauben sich den Schlaf und stören den im Gehirn aktiven Lehrmeister bei der Konsolidierungsarbeit. Kein Wunder also, dass so erworbenes Wissen schnell wieder der Vergessenheit anheim fällt.

Warum hilft es uns, wenn der Lehrer sagt, „Das gesuchte Wort fängt mit A an“, oder wenn wir Eselsbrücken benutzen?

Der Abruf aus dem Langzeitgedächtnis kann auf verschiedene Art und Weise erfolgen. Die höchsten Anforderungen stellt der freie Abruf, bei dem keine externen Abrufhinweise genutzt werden können, wohingegen ein Abruf mit Hinweisreizen das Erinnern erheblich erleichtert („Das gesuchte Wort fängt mit ‚a‘ an“). Die bekannteste Abrufstrategie dürfte die Verwendung von „Eselsbrücken“ sein, die bereits beim Einprägen gebildet wurden und beim Abrufen als interne Hinweise fungieren. Grundsätzlich können Erinnerungen aus dem Gedächtnis am besten abgerufen werden, wenn die Umstände des Abrufs denen des Einprägens ähnlich sind (Prinzip der Enkodierspezifität oder Kontexteffekte). Hiermit lässt sich auch das leidige Transferproblem recht gut erklären. Ein Schüler lernt in der Therapiesituation (entspannte Einzelsituation) eine Rechtschreibregel oder eine kognitive Lern- und Problemlösestrategie und hat sie dann in der Schule (stressige Klassensituation bei einer mündlichen oder schriftlichen Abfrage) nicht zur Verfügung. Die leichteste Art des Abrufes stellt das Wiedererkennen von Inhalten dar, bei dem nicht nur Hinweise gegeben werden, sondern das abzurufende Material als Auswahlmöglichkeit unter anderem angeboten wird (Multiple-Choice-Aufgaben).

Warum wird der Fisch im Bericht eines Anglers mit jedem erneuten Erzählen immer größer und warum entfernen sich Zeugenaussagen zunehmend vom tatsächlichen Geschehen?

Jeder Abruf führt grundsätzlich zu einer erneuten Einspeicherung mit einer Re-Encodierung des Inhaltes. Dabei wird einerseits die Einspeicherung durch das Abrufen weiter gefestigt. Andererseits aber birgt die erneute Einspeicherung die Gefahr, dass dabei Inhalte verfälscht werden. Jedes Einspeichern und jedes Abrufen ist ein aktiver, gestaltender Zugriff auf Daten und führt deshalb häufig dazu, dass sie mehr oder weniger stark bearbeitet werden. Wir dürfen uns unser Gedächtnis nicht wie eine Festplatte im Computer vorstellen, auf der Erlebnisse und Daten abgelegt sind, die unverändert beliebig oft aufgerufen werden können. Unsere Erinnerungen sind vielmehr in ein komplexes Informationsnetz integriert, dort mehrfach mit unterschiedlichen bereits vorhandenen Daten verbunden und somit auch oft weit verteilt an unterschiedlichen Orten platziert und festgehalten. Dabei werden einlaufende Einzelinformationen auch recht unterschiedlich bewertet. Die bisher unbekannten, oder diejenigen, die auf Gefahren hinweisen oder zum Überleben wichtig sind oder ins vorhandenen Sinngefüge gut passen, werden bevorzugt behandelt, während Altbekanntes, Unsinniges und Harmloses gerne auch einmal ignoriert wird. Versuchen wir uns nun an etwas zu erinnern, muss unser Gehirn alles zusammensuchen, was – seines Wissens – zum Gesuchten gehört und aus den vielen Einzelheiten die Gesamterinnerung neu konstruieren. Dass hierbei hin und wieder ein kleiner Fehler passiert, ist leicht verständlich und erklärt die uns nicht bewusst werdenden Veränderungen von Gedächtnisinhalten.

Warum kann sich ein Schüler an den Namen einer Blume nicht mehr erinnern, findet selbigen jedoch problemlos in einer Multiple Choice Aufgabe?

Bei der Beantwortung dieser Frage müssen wir wieder auf die diagnostisch und didaktisch interessante Unterscheidung zwischen Einspeicher- und Abrufprozessen zurückgreifen. Das Wiedererkennensgedächtnis spielt dabei eine zentrale Rolle:

Ein Schüler wird von seiner Lehrerin aufgefordert, den vor Tagen neu gelernten Buchstaben „A“ an die Tafel zu schreiben. Als ihm dies nicht gelingt, vermutet die Lehrerin, besagter Schüler habe Wahrnehmungsstörungen, habe das „A“ einfach noch nicht richtig aufgenommen und gespeichert. Sie wird ihm deshalb die Möglichkeit bieten, dieses „A“ nochmals, möglichst mit allen Sinnen, zu erfahren und wahrzunehmen. Liegt das Problem des Schülers jedoch eher auf der Seite des Abrufs, der Produktion, so wären die Bemühungen von Lehrkraft und Schüler im Bereich Wahrnehmung und Einspeicherung vergebens. Vielmehr müsste sich die Lehrerin in diesem Fall Gedanken darüber machen, wie sie ihrem Schüler beim schnellen, sicheren Zugriff auf das vorhandene Wissen, beim Abrufen und Produzieren des bereits aufgenommenen und gespeicherten Buchstabens „A“ unterstützen könnte. Vor einem vorschnellen Rekurrieren auf Wahrnehmungsstörungen als Ursache für Lernschwächen sei hier ausdrücklich gewarnt. Vermutlich sind Produktions- und Abrufschwächen viel häufiger der Grund für misslungene Lernprozesse.

Wenn man bei einem Schüler eine Lernstörung vermutet, sollte man daher in jedem Fall seine Einspeicher- und Abrufprozesse differenziert überprüfen. Das gelingt schnell und einfach mit Hilfe des Wiedererkennensgedächtnisses. Wird dem Schüler in obigem Beispiel der gesuchte Buchstabe „A“ in einer Auswahl verschiedener Buchstaben vorgelegt und er erkennt das „A“ sofort wieder, so handelt es sich bei ihm eher um eine Produktions- oder Abrufschwäche und weniger um ein Wahrnehmungs- oder Einspeicherproblem. Die Wahrnehmung oder Reizaufnahme und ihre Speicherung sind in diesem Fall erfolgreich abgelaufen, lediglich die freie Reproduktion, der freie Abruf ohne Hilfsmittel oder Hinweisreize war nicht möglich.

Literatur

Breitenbach, E. (2014): Psychologie in der Heilpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer

Breitenbach, E. (2019): Vom Behalten zum Erinnern – Wie funktioniert unser Gedächtnis? In: behinderte Menschen 42, (Heft 4/5), S. 51-58

Karsten, Gunther: So lernen Sieger. Mosaik-Verlag, 2012.

Pitsch, H-J. u. A. Limbach-Reich (2019): Lernen und Gedächtnis bei Schülern mit kognitiver Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer