Anmerkungen zu einem unsäglichen und fragwürdigen „Fachbegriff“.

In den letzten Jahren hat sich bei mir der Eindruck verdichtet, dass wir sowohl in der sonderpädagogischen Wissenschaft als auch in der Bildungsverwaltung recht großzügig mit unseren Fachbegriffen umgehen. Leichtfüßig und unbeschwert denkt man sich zum Beispiel immer wieder neue Bezeichnungen für sonderpädagogische Einrichtungen, Fachrichtungen oder Studiengänge aus. Lese ich in der aktuellen Fachliteratur oder in Verwaltungsvorschriften, begegnen mir ständig begriffliche Neuschöpfungen.

Begrifflichkeiten und deren Bedeutung können sich durchaus im Laufe der Zeit verschieben. Spart man sich das Nachdenken über treffende und fachlich saubere Formulierungen, stellt man plötzlich unter Umständen fest, dass durch diese Nachlässigkeit ein Fachbegriff zur Leerformel geworden ist. Gerne und leichtfertig geben Schreibende feststehenden Fachbegriffen eine eigene Bedeutung oder persönliche Prägung, ohne sich dabei auf die bereits vorhanden Definitionen zu beziehen oder, was regelrecht peinlich ist, ohne möglicherweise die vorhandenen zu kennen. Paradebeispiel für einen solchen unbemerkten Prozess der Sinnentleerung ist der weit verbreitete Begriff des Förderns.

Man muss sich wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen, wie inflationär dieser Begriff verwendet wird: Es gibt bei uns Sonderpädagogische Förderung, allgemein bildende pädagogische Förderung oder bildungspädagogische Förderung, individuelle Förderung, basale Förderung, inklusive Förderung, Sprachförderung, LRS-Förderung, Entwicklungsförderung, Förderpädagogik, Förderschulpädagogik, Fördererziehung, Förderdiagnostik, Frühförderung, Förderplan, Förderkonzept, Förderansatz, Fördermaterialien, Förderprogramm, Förderziel, sonderpädagogischer Förderbedarf, Förderschulen, Förderzentren, Förderstufe, Förderschwerpunkte, Förderunterricht, Förderlehrkräfte. Wir haben sogar eine Fachzeitschrift, die „Förderung“ in ihrem Titel führt und „Sonderpädagogische Förderung heute“ heißt. Es gibt junge Menschen, die studieren das „Lehramt für sonderpädagogische Förderung“ oder „Lehrämter mit integrierter Förderpädagogik“. In zahlreichen Studiengängen ist das Fördern und die Förderung offensichtlich zentraler Lehr- und Lerngegenstand. Keine der Bezeichnungen habe ich erfunden, alle existieren tatsächlich in der Fachliteratur und in Texten der Bildungsverwaltung. Dennoch würde auch ich gerne eine Neuschöpfung hinzuzufügen, ich würde mich gerne stark machen für den „therapieorientierten Förderunterricht, TOFU“…

Sucht man nach Definitionen, findet man folgende: „Förderung bedeutet eine helfende Unterstützung zwecks Entwicklung“ (Greving und Ondracek 2005). Schuck (2016) kommt zum Ergebnis, der Förderbedarf sei „partiell aber auch umfänglich“ zu verstehen. Er erfasse „kurzfristige, aber natürlich auch langfristige Problemlagen“. Sei „direkt auf das Kind, aber in gleichem Maße auch auf dessen Umwelt gerichtet“. Fasst man die wortreiche Definition des Förderbedarfs in den KMK-Empfehlungen (1994) zusammen, kommt eine kleine nichtssagende Tautologie zum Vorschein: Kinder, die einer Förderung bedürfen, haben sonderpädagogischen Förderbedarf.

Diese fast grenzenlos dehnbare und unspezifische Verwendung des Begriffs „Förderbedarf“ hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass immer mehr Kinder als „förderbedürftig“ beurteilt werden. Wenn fast jeder in irgendeiner Weise jeder förderbedürftig sein kann, gibt es immer mehr Bedarf an „Integration“ und immer mehr Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Das hat Otto Speck schon 2012 festgestellt.

Was meinen also Praktiker, Wissenschaftler, Bildungspolitiker, wenn sie über Fördern reden oder schreiben? Warum erfreut sich der Begriff des Förderns einer so großen Beliebtheit? Müssen wir uns um eine exaktere Definition bemühen, weil „Fördern“ als Fachbegriff hilfreich und notwendig ist? Möglicherweise finden wir Antworten auf diese Fragen, wenn wir systematisch auf unterschiedlichen Wegen nach ihnen suchen. Bemühen wir also die Handbücher und Lexika der Pädagogik und Sonderpädagogik, werfen wir einen Blick auf den Sprachgebrauch in der Fachliteratur, unternehmen wir einen Ausflug zum „sonderpädagogischen Förderbedarf“ und prüfen wir, inwieweit „Fördern“ überhaupt zu pädagogischem Denken passt.

 

  1. Häufiger Gebrauch mit vager Definition

Zieht man die Etymologie zu Rate, so drückt Fördern aus: etwas voranbringen, etwas nach oben bringen etwas befördern und steht damit sprachlich im Gegensatz zu hindern, behindern oder verhindern. Sucht man im Stichwortkatalog einschlägiger Lexika und Handbücher, stellt man fest, dass der Förderbegriff in den erziehungswissenschaftlichen Standartwerken überhaupt nicht vorkommt und in den sonderpädagogischen eher selten. Seit 1990 sind 27 sonderpädagogische Lexika oder Handbücher erschienen oder neu aufgelegt worden. Nur in acht findet sich ein Artikel zu den Begriffen Fördern, Förderung oder Förderbedarf. Das vernichtende Urteil renommierter Kollegen über die dort zu findenden Definitionsversuche überrascht nicht: Für Theunissen (2013) liegt hier eine kaum tragfähige Definition vor, die vage und unspezifisch ist. Es besteht die Gefahr, dass sie zur Leerformel und ideologieanfällig wird. Speck (2012) stößt ins gleiche Horn: Die Überdehnung macht den Begriff fragwürdig. Er lässt sich nicht hinreichend klar definieren, ist schwer kontrollierbar, missverständlich und irreführend.

 

  1. Sprachgebrauch

Was lässt sich über den Förderbegriff herausfinden, wenn man den Sprachgebrauch in der Fachliteratur und in Texten der Bildungsverwaltung betrachtet? Stolz (2015) begreift Förderung als eine „individuelle, spezifische oder begleitende Hilfe“, also eine Art von Einzelhilfe. Immer wieder taucht Unterricht und Förderung als begriffliches Zwillingspaar auf, was suggeriert, alles außerschulische pädagogische Handeln sei Förderung. Dummerweise und nicht dazu passend existiert in der Literatur auch der Begriff Förderunterricht, quasi als spezifische Unterrichtsform. In Lehramtsstudienordnungen stößt man auf den Dreiklang „Unterricht-Förderung-Therapie“. Hier könnte man herauslesen, dass Förderung alles ist, was nichts mit Unterricht und Therapie zu tun hat. Was immer dann noch für Förderung übrig bleibt. Als die drei Aufgabenschwerpunkte von Erziehungshilfepädagogen führt Goetze (2010) Förderung, Therapie und Beratung an. Das nicht-therapeutische Handeln scheint hier mit Fördern gemeint zu sein. Wiewohl er aber auch eingestehen muss, dass im Bereich der Erziehungshilfe mehr und mehr von pädagogisch-therapeutischen Interventionen die Rede ist. Darüber hinaus stolpert man in Texten auch immer wieder über die Begriffe Sprachförderung und Sprachtherapie, über LRS-Förderung und LRS-Therapie ohne dass man über deren unterschiedliche inhaltliche Bedeutung aufgeklärt wird. Vermuten könnte man, dass Förderung hier als Therapie-light oder als die Taschenbuchausgabe von Therapie verstanden wird.

Man kann aber im Sprachgebrauch auch neben dem spezifischen Bedeutungsgehalt genau das Gegenteilige finden. Förderung meint das Gesamt allen pädagogischen Handelns, ist praktisch ein pädagogischer Oberbegriff mit dem Anliegen, Kinder und Jugendliche bei ihren Entwicklungs- und Lernprozessen zu unterstützen.  Beim Berliner Senat für Bildung oder dem niedersächsischen Bildungsserver erfährt man, dass sonderpädagogische Förderung auf drei Säulen ruhe, die da wären:

– gemeinsamer Unterricht mit temporären Lerngruppen,

– der Besuch von Förderzentren,

– und der Einsatz von Beratungs- und Unterstützungssystemen.

Damit existiert wohl keine Einrichtung in unserem Bildungssystem, in der nicht gefördert würde. Die Inklusive Förderung erfolgt nach Veber und Fischer (2016) im Dreischritt von Diagnostik, Förderung und Evaluation. Einmal abgesehen davon, was hier das Neue und Inklusive sein soll, geht jegliches pädagogische und therapeutische Handeln offensichtlich im Fördern auf. Andere Autoren weisen explizit darauf hin, dass Förderung als Synonym zu Erziehung, Bildung, Unterricht und Therapie zu verstehen ist (Theunissen 2013) oder dass mit sonderpädagogischer Förderung dasselbe wie mit sonderpädagogischer Bildung gemeint sei (Lindmeier und Lindmeier 2012). Speck (2003) bezeichnet Erziehung, Unterricht und Therapie als Fördermethoden. Auch eine Variante, die auf das gesamte pädagogische Handeln hinweist.

 

  1. Weg von „Sonder“ hin zu „Förder“ – der Förderbedarf

Versuchen wir eine Annäherung über den Begriff Förderbedarf. Die KMK-Empfehlungen zeichnen letztendlich für den Begriff des Förderbedarfs verantwortlich. Der Sonderpädagogische Förderbedarf sollte den alten und längst überholten, nicht mehr zeitgemäßen Begriff der Sonderschulbedürftigkeit ablösen. Der Förderbedarf wurde nicht mehr wie bisher die Sonderschulbedürftigkeit institutionsbezogen, sondern eben personbezogen definiert, ohne Bezug zum Förderort. Sonderschulen wurden zu Förderschulen oder Förderzentren, aus der Sonderpädagogik wurde eine Förderpädagogik mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten.

Einige Sonderpädagogen feierten dies als eine die gesamte Sonderpädagogik revolutionierende, umwälzende Veränderung, als einen Paradigmenwechsel. Trotzdem sei noch einmal an die bahnbrechende tautologische Definition des Förderbedarfs in der KMK-Empfehlung erinnert: „Einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben die Kinder, die einer Förderung bedürfen“. Es ist absolut nachvollziehbar, dass eine solch gewaltige Aussage alles vorherige sonderpädagogische Denken förmlich in sich zusammenbrechen lässt und einen Paradigmenwechsel erzwingt…

Die Behauptung mit dem Paradigmenwechsel erwies sich dann doch als ein wenig vorschnell. Der Kollege Schuck (2006, 2016) stellt ernüchtert fest, dass der Begriff des Förderbedarfes keineswegs personenbezogen gebraucht wird, sondern in der Regel – wie die Sonderschulbedürftigkeit – als institutionelle, verwaltungstechnische Kategorie. So erläutert zum Beispiel eine niedersächsische Verwaltungsvorschrift, dass ein sonderpädagogischer Förderbedarf dann vorliege, wenn die präventive schulische Förderung, die Zurückstellung und die Klassenwiederholung nicht zum zielgleichen Lernen ausreichen. Das mutmaßliche Nichterreichen von Lernzielen einer Schulstufe und Schulform ist die hier alles entscheidende Bezugsgröße. Das sonderpädagogische Handeln wird weiterhin zweifelsfrei institutionsbezogen legitimiert.

 

  1. Förderung ist kein pädagogischer Fachbegriff

Wolfgang Jantzen (2017) vertritt bei seinen Überlegungen zum Förderbegriff die Auffassung, dass dieser Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels sei und deshalb eher zur den Begriffen Planung, Steuerung, Kontrolle passe und weniger bis nichts zu tun habe mit Begriffen wie Bildung und Emanzipation.

Und damit ist schon der nächste Erkenntnisschritt eingeläutet: Förderung ist kein pädagogischer Begriff. Beim Fördern gibt es einen, der aktiv fördert und einen anderen, der passiv gefördert wird.  Ersterer kennt das Förderziel; er weiß also, was gut für den Zu-Fördernden ist und plant deshalb die nächsten Förderschritte, die der Zu-Fördernde unter seiner fachkundigen Anleitung zu gehen hat. Ein solches Vorgehen entspringt für Speck, aber auch für eine Reihe anderer Kollegen, eher einem behavioristischen Denken, denn einem pädagogischen. Es sieht dem, was in der Psychologie unter Konditionierung verstanden wird, zum Verwechseln ähnlich. Förderbedarf wird unter diesem Blickwinkel zu dem, was Außenstehende für ein Kind, seine Entwicklung und seine Zukunft für wesentlich halten. Das ist sicher weit weg von einer Unterstützung zu Autonomie, Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe, was also über die unmittelbare und bloße Übernahme kultureller Erfahrungen, Normen und Werte hinausweist.

 

  1. Verharmlosung, Verschleierung, Verwirrung

Eigentlich dienen Begriffe und ihre Definitionen der Klärung von Sachverhalten. Beim Förderbegriff ist dies nicht so. Er stiftet eher Verwirrung, verschleiert Zusammenhänge und verharmlost wichtige, bedeutsame Aspekte. Bleiben wir beim Letzteren.

Der Förderdiagnostik, die man als Überwindung der alten bösen Zuweisungs- und Selektionsdiagnostik feierte, wurden per definitionem zwei Aufgaben zugewiesen: Zunächst sollte mit ihrer Hilfe der Förderbedarf geklärt werden und anschließend ein geeigneter, dem Förderbedarf entsprechender Förderort gesucht und festgelegt werden. Mit dem Begriff der neuen guten Förderdiagnostik wird ungeniert die Frage der Selektion, der Platzierung hinter der pädagogisch harmlosen Frage nach angemessener Förderung versteckt. Es geht ausschließlich um die Förderung der Kinder, wird signalisiert. Dass die Festlegung des Förderortes auch Schullaufbahnen und Lebenswege mitbestimmt und dass bei dieser Gelegenheit Entwicklungs- und Lebenschancen verteilt werden, bleibt eher im Verborgenen und Teil eines heimlichen oder besser unheimlichen Curriculums.

Der Begriff der Förderung sollte, so das Ehepaar Lindmeier (2012), dazu beitragen den Behinderungsbegriff zu überwinden und überflüssig zu machen. Behindern und Fördern lässt sich nun einmal schlecht vereinbaren. Der Behinderungsbegriff blieb jedoch auch weiterhin für den Förderbedarf die heimliche Bezugsgröße. Und letztendlich erfüllt der Sonderpädagogische Förderbedarf als verteilungspolitischer Legitimationsbegriff denselben Zweck wie der Begriffsvorgänger, die Sonderschulbedürftigkeit, so Bettina und Christian Lindmeier.

Der Begriff des Förderns, der Förderung oder des Förderbedarfs suggeriert somit Veränderung und Fortschritt, wo alles im Grund beim Alten bleibt. Er erscheint vielen als keimfrei, gut bis ins Mark und deshalb auch völlig unbedenklich im Gebrauch. „Wir tun nichts Schlimmes, wir fördern nur“. Wer könnte gegen das Fördern etwas einwenden. Er steht letztendlich für alles und nichts und bietet sich vielleicht immer dann in besonderer Weise an, wenn pädagogisches Denken nicht zu der nötigen Klarheit geführt hat.

 

Literatur

Goetze, H. (2010): Förderung und Therapie. In: Ahrbeck, B. u. Willmann, M. (Hg.): Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Ein Handbuch. Kohlhammer, 278-287

Greving, H. u. Ondracek P. (2005): Handbuch Heilpädagogik. Troisdorf

Jantzen, W. (2017): Förderung. In: Ziemen, K. (Hg.): Lexikon Inklusion. Göttingen, 77-79

Lindmeier, B. u. Lindmeier, C. (2012): Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Band I: Grundlagen. Stuttgart

Schuck, K.D. (2016): Fördern, Förderung, Förderbedarf. In: Dederich, M. Beck, I., Antor, G., u. Bleidick, U. (Hg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Stuttgart, 116-120

Schuck, K.D. (2006): Fördern, Förderung, Förderbedarf. In: Antor, G., u. Bleidick, U. (Hg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Stuttgart, 84-88

Speck, O. (2003) System Heilpädagogik. München

Speck, O. (2012): „Förderbedarf“ und Kompetenzzentren an Allgemeinen Schulen. Zeitschrift für Heilpädagogik, Heft 12, 503-511

Stolz, C. (2015): Förderung. In: Theunissen, G. (Hg.): Handlexikon Autismus-Spektrum

Theunissen, G. (2013): Förderung. In: Theunissen, G., Kulig, W. u. Schirbort, K. (Hg.): Handlexikon Geistige Behinderung. Stuttgart, 130-131

Veber., M. u. Fischer, C. (2016): Individuelle Förderung in Inklusiver Bildung – eine potenzialorientierte Verortung. In: Amrhein, B. (Hg.): Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung. Bad Heilbrunn, 98-117