Die Autoren der Fibel-Studie geraten unter Druck. Man täte den Lehrern Unrecht, denn viele Wege führten nach Rom, heißt es – aber warum sollte man Kindern dabei den Umweg über Berlin zumuten?

Den Verfassern der Fibel-Studie wird vorgeworfen, sie würden undifferenziert davon ausgehen, jeder Lehrer, der eine Anlauttabelle verwende oder Rechtschreibfehler nicht korrigiere, würde „den“ Spracherfahrungsansatz verwenden oder gar nach Reichen arbeiten, und im Zuge dieser Unschärfe werde Lehrern Unrecht getan, da viele gar nicht die kritisierten Methoden in Reinform anwendeten bzw. da der Spracherfahrungsansatz ja gar nicht so weit weg vom Lehrplan z.B. in NRW sei. Außerdem seien viele Fibeln bereits „infiziert“ von diesen Ansätzen – das stimmt, absolut. Aber es ist doch in Wirklichkeit erschreckend, dass manche Kinder in Deutschland offenbar nicht einmal mit einem systematischen Aufbau unterrichtet werden, während man eigentlich längst daran arbeiten müsste, die zahlreichen fehlerbehafteten Fibeln aus dem Verkehr zu ziehen und eine optimal gestaltete mit einem Prüfprozess wie in Japan üblich vorzugeben. Und ja, natürlich ist es nicht entscheidend, ob das systematisch verwendete Material als „Fibel“ in Buchform gebunden ist, als App vorliegt oder durch Hefteinträge mit den Schülern notiert wird. So dumm, das rein an der äußeren Form festmachen zu wollen, scheinen mir aber die Beteiligten auch nicht zu sein, das Argument finde ich trivial. Ebenso wie das Argument, dass man auch mit einer guten Fibel in der Hand schlechten Unterricht machen kann. Geschenkt.

Wie auch immer sich der Vorwurf der Unschärfe am Ende, nach Erscheinen der ausführlichen Studie, halten mag – für mich geht diese Kritik am eigentlichen Problem vorbei.

„Fibel“ steht für einen Unterricht, in dem der Lehrer einen systematischen Lernweg vorgibt, der für alle Kinder Geltung hat. Die „freieren“ Methoden, egal ob nach Spracherfahrungsansatz oder nach Reichen, stehen dafür, die Unterrichtsplanung nicht von der Sachlogik her, sondern stark von den spontanen Interessen und unstrukturierten Fähigkeiten des Kindes her aufzuziehen.

Zwischen diesen beiden Polen muss man sich entscheiden, nicht zwischen einem gebundenen Lehrwerk und einer Loseblattsammlung. Dabei waren die Argumente für die vermeintlich kindgemäßeren „freien“ Methoden die Triebfedern für etwa 40 Jahre teils schwer verfehlte Rechtschreibdidaktik in Deutschland.

Kreativität ist etwas Schönes, aber sie setzt nicht nur routiniertes Handwerkszeug voraus, wenn etwas wirklich wertvolles entstehen soll, z.B. eine gute Geschichte. Kreativität und vogelwildes, selbstgewähltes Vorgehen haben ihren Platz bei Lerninhalten, die in sich keine logisch notwendige Struktur haben. Die Rechtschreibung gehört nicht hierzu. Rechtschreibung kennt, wie die Mathematik, ein klares Richtig und Falsch. Von den Regeln abweichend zu schreiben ist keine schöpferische Leistung, sondern schlicht ein Zeichen dafür, dass die richtige Schreibung noch nicht beherrscht wird. Kreativ werden kann man in den Geschichten, die man schreibt – aber Pflicht kommt vor Kür, die Rechtschreibung muss beherrschen, wer ein guter Autor werden will. Genauso wie jeder Maler bestimmte Zeichentechniken übt und jeder Naturforscher erst einmal physikalisches, chemisches und biologisches Basiswissen sicher beherrschen muss, ehe er sich mit neuen Entdeckungen um den Nobelpreis bewirbt. Aus ideologischen Gründen wird seit Jahrzehnten im Unterricht die kindliche Selbststeuerung bei einem Thema überbetont, in dem für sie durch die Natur der Sache nun einmal wenig Platz ist. Verbunden wird das mit der m.E. frei erfundenen Behauptung, ein sachgemäßer Unterricht mit klarer Struktur sei per se langweilig.

Was ist guter Unterricht?

Für mich ist das entscheidende Problem daher der zu Grunde gelegte Maßstab für guten Unterricht. Ob man die Reichen-Methode in Reinform anwendet oder nur einen Spracherfahrungsansatz in abgemilderter Form, ist lediglich ein gradueller Unterschied. Kern ist die Frage: Wissen Lehrkräfte überhaupt noch um optimale, sachgemäße Lernwege und glauben sie überhaupt an deren Berechtigung? In der Diskussion zur Studie taucht immer wieder die Auffassung auf, ein guter Lehrer sei der, der über ein großes Methodenrepertoire verfügt. Diese Auffassung teile ich so nicht – und genau darauf wollte auch Erwin Breitenbach hinaus, als er auf die Methoden der PISA-Sieger und die Ergebnisse der Hattie-Studie verwies. Ein guter Lehrer ist einer, der die Sache durchdrungen hat, der also die Fachdidaktik beherrscht und den sachgemäßesten Weg kennt, ein Thema zu erarbeiten und zu üben. Im Gegenteil dazu glauben die Kritiker der Studie genauso wie die Lehrkräfte, die eine bunte Mischung aus Anlauttabelle, freiem Schreiben, Üben und der ein oder anderen Rechtschreibregel verwenden, dass es gar keinen sachgemäßen Weg gibt – oder sie kennen ihn nicht. Um es deutlich zu sagen: der pi mal Daumen gemixte Cocktail aus verschiedensten didaktischen Methoden ist das Problem, nicht die Lösung.

Was ist ein guter Lehrer?

Für die Kritiker der Studie gibt es, so mein bisheriger Eindruck, zwei Arten von guten Lehrern:

Für die meisten ist ein guter Lehrer nicht einer, der den sachgemäßesten Weg kennt, sondern einen bunten Strauß spaßiger oder vielsinniger Methoden und Methödchen einsetzt. Genau hierüber habe ich mich im Artikel Auf der Suche nach dem Zaubermaterial und hier ausführlich aufgeregt.

Für ein paar andere ist ein guter Lehrer der, der für jedes Kind den individuellen Lernweg sucht und glaubt, es brauche 28 unterschiedliche Lernwege für 28 Schüler einer Klasse. Ein solch arbeitsintensives Engagement ist aber nur sehr selten wirklich in der Praxis anzutreffen (und fachlich betrachtet auch  nicht erforderlich). Dass es notwendig sei, wird allerdings immer wieder gerne behauptet; auch, um die planlose Methodenvielfalt zu rechtfertigen. Didaktisch nicht so sattelfeste Lehrkräfte gehen auf diese Weise quasi auf Nummer sicher: Wenn man alles mögliche macht, wird schon für jedes Kind irgendetwas dabei sein. Mit Förderdiagnostik, also mit der Beachtung der Zone der nächsten Entwicklung, der gezielten und wohlüberlegten Methodenwahl sowie der kritischen kontrollierten Überprüfung des Lernerfolgs bei jedem einzelnen Kind, hat das herzlich wenig zu tun.

Des Pudels Kern: Sachgemäß oder dem einzelnen Kind gemäß? Und schließt sich das wirklich aus?

Es geht also im Kern um die Frage, ob guter Unterricht sachgemäß ist, sich also zunächst am Unterrichtsgegenstand orientieren muss, oder ob guter Unterricht primär individuumsgemäß sein muss, sich also zunächst am Schüler orientieren muss. Meines Erachtens ist das ideologische Pendel in den letzten 40 Jahren extrem in Richtung Überindividualisierung ausgeschlagen und hat dabei enormen Flurschaden angerichtet. Im Zuge der Überbetonung des Individualismus wurden an den Universitäten die Kompetenzen für sachgemäßen Unterricht durch Bevorzugung anderer Lehrthemen ausgehöhlt. In Folge dessen ging in der Lehrerausbildung immer stärker die Kompetenz zur Gegenstandsanalyse zurück bzw. die notwendige Stärkung blieb aus. (Auch in den 60er Jahren war hier kein zufriedenstellendes Plateau erreicht – man hätte aber auf Basis von Aeblis Psychologischer Didaktik zu einem Höhenflug ansetzen können, statt auf ihn zu verzichten und ab den 80er Jahren via „Ganzheitlichkeit“ und seit etwa 2005 via „Individualisierung plus Inklusion“ in den Sinkflug zu gehen.)

Als Folge davon haben wir Lehrkräfte, die weniger denn je zur fachdidaktisch korrekten Analyse des Lerngegenstands in der Lage sind. Im Bereich Deutsch sieht man das z.B. an den äußerst geringen linguistischen Kenntnissen der Grundschullehrkräfte. Das Verständnis von Graphemen und Phonemen, die Unterscheidung von Wahrnehmungs- und orthographischen Fehlern, das einfache Wissen um kurze und lange Vokale oder die Hochlautung des Deutschen sind beklagenswert gering. Im Bereich Mathematik sieht es nicht viel besser aus. Fakt ist aber nun einmal: Es gibt sachgemäße und unsachgemäße Analysen eines Themas. Es gibt mögliche, aber unnötige Umwege, denn es mögen zwar viele Wege nach Rom führen, aber den Schlenker über Berlin sollte man Kindern dabei doch lieber ersparen.

Sachgemäße Didaktik verhindert nicht angemessene Individualisierung, sondern stellt sie sicher

Die mangelnde fachdidaktische Qualifizierung der Lehrkräfte ist tragisch, denn die Betonung der sachgemäßen Aufbereitung stellt nicht nur die sachliche Korrektheit des Unterrichts sicher.  Sie ist auch das beste Mittel, um die Brücke vom sachgemäßen Inhalt (den wir Kindern schulden) zum Individuum zu schlagen. Diese Brücke ist die Operation sensu Piaget und Aebli. Die didaktische Analyse beginnt mit der Frage nach dem logischen Aufbau des Themas; im Bereich Deutsch braucht es dazu zweifellos linguistisches Wissen. Im nächsten Schritt muss die Lehrkraft aber die geistigen Operationen, also die Denk-Handlungen des Schülers verstehen und planen, die nötig sind, damit er das Sachthema mittels Akkommodation und Assimilation in sein vorhandenes Wissen einfügen kann. Die Lehrkraft muss dabei überlegen, welche geistigen und praktischen Handlungen der Schüler dazu durchführen muss. Verschiedene Fragestellungen und Aufgabentypen sind dabei gleichermaßen die verschiedenen geistigen Werkzeuge (z.B. in Morpheme zerlegen, Laute vergleichen,  Lauten Grapheme zuordnen etc.), die dem Schüler zur Verfügung stehen. Mit ihrer Hilfe kann er unter Anleitung den Lerngegenstand zerlegen und wieder zusammenzusetzen, um ihn sich zu eigen zu machen, wie im hier verlinkten Artikel ausführlich beschrieben. Wenn man im Rahmen der Unterrichtsvorbereitung über diese geistigen und praktischen Handlungen der Schüler nachdenkt, kommt man nicht nur zu einer vernünftigen Entscheidung zwischen Methoden, die sachdienlich sind, also pro Zeitaufwand einen möglichst großen Erkenntnisgewinn der Schüler einbringen, und anderen, die nur „Schnickschnack“ sind und Zeit kosten, aber keinen oder wenig Erkenntnisgewinn bieten.

Man beschäftigt sich zwangsläufig auch mit der Lernausgangslage der eigenen Schüler, hat die Klasse vor Augen – und hat so Gelegenheit, in einem vernünftigen Rahmen auf das Individuum einzugehen. Mit „vernünftig“ meine ich: Nicht um jeden Preis, nicht ohne Not Zeit und Mittel aufwenden, nur damit jeder sich besonders fühlen kann, obwohl das keinen Vorteil bei der Erkenntnis der Sache bringt – sondern soweit auf das Individuum einzugehen, wie es nötig ist, damit es mit seinen persönlichen Voraussetzungen den schnellsten Weg in die sachgemäße Auffassung des Themas findet. Und unter diesem Aspekt sind die Unterschiede zwischen Schülern gar nicht so riesig, und die Vorteile verschiedener Methoden gar nicht so real, dass man ein unglaublich breitgefächertes Methodenrepertoire bräuchte.

Nicht alle Aspekte des Individuums sind relevant für den Unterricht

Vor allem gibt es keinerlei Berechtigung für ein unreflektiertes Anwenden verschiedener Methoden nach dem Gießkannenprinzip in der Hoffnung, so sei für jeden etwas dabei, denn das ließe die ersten beiden Schritte der sachgemäß-fachdidaktischen und der operationsbezogenen Unterrichtsvorbereitung außer Acht. Es ist für die Erarbeitung der Regel „ein langes i schreibt man meistens ie“ nicht wichtig, ob Paul gerne tanzt und Lea gerne Rollschuh fährt, ob Yasmine nur einen Arm hat oder Ali geflüchtet ist – auch wenn das Aspekte ihrer Individualität sind. Nicht alle Aspekte der Individualität sind wichtig für jedes Thema. Unterricht ist auch deshalb etwas menschlich Verbindendes, weil hier alle Beteiligten ähnliche Fähigkeiten einbringen und die persönlichen Unterschiede – die individuellen Differenzen – eben gleichgültig sind beim Lernen des „ie“. Wichtig sind ausschließlich solche individuellen Besonderheiten, die für die in der Unterrichtsvorbereitung analysierten, notwendigen Operationen und für die ausgewählten geistigen und praktischen Werkzeuge in der Erarbeitung von Belang sind.

Wenn Paul im Kindergarten nicht gelernt hat, den Klang langer und kurzer Vokale zu unterscheiden, ist das relevant. Seinetwegen muss diese Unterscheidung dann auf jeden Fall erst einmal geübt werden. Wenn das durch simples Vorsprechen und antworten von „lang“ oder „kurz“ gelingt, ist das der schnellste Weg. Wenn Paul Schwierigkeiten hat, kann man vielleicht auf sein Tanz-Interesse zurückgreifen und ihm lange und kurze Bewegungen als Merkhilfe anbieten. Wenn in der selben Klasse dann die einarmige Yasmine sitzt, darf man nicht darauf bestehen, diese Bewegungen mit dem rechten Arm auszuführen, wenn sie nur noch den linken besitzt. Solchermaßen gehört Individualität einbezogen, absolut. Aber auf der Basis von sachdienlichen Überlegungen, nicht als Therapie, nicht als Wohlfühlverein, nicht als Legitimation von lehrerseitiger Planlosigkeit und dem Unwillen oder Unvermögen, unter mehreren veröffentlichten methodischen Mitteln das sachdienlichste auszuwählen und die Zeit der Schüler nicht mit weniger sachdienlichen Methoden zu verschwenden.

Nicht orthodox methodengläubige Lehrer sind das Problem, sondern planlose und verunsicherte

Hierin, nicht in der Frage, ob in Deutschland nun x % der Lehrkräfte orthodoxe Anhänger von Reichens Schreibmethode sind, liegt meines Erachtens des Pudels Kern. Legasthenie als didaktogene Störung ist nicht primär ein Problem, das durch extrem überzeugte Anhänger abseitiger Methoden verursacht würde. Das Problem ist die Planlosigkeit im Methodeneinsatz, in der Unterricht zu einem „Kessel Buntes“ verkommt, und die ideologisch besetzte Ablehnung der schlichten Wahrheit, dass es sachgemäße und unsachgemäße didaktische Analysen gibt; dass man auf effiziente, weniger effiziente und ineffiziente bis schädliche Methoden zurückgreifen kann.

Nicht von ungefähr zeigte die Hattie-Studie, dass die besten Lehrer die sind, die jederzeit wissen, was sie tun und als schnellsten Weg selbstbewusst und in der Sache sicher oft einen frontalen wählen. Diese Lehrkräfte kaufen die Zeit aus, betreiben auch im Kopf einen permanenten Abgleich zwischen Sachgemäßheit, geistiger Operation und individuellem Schüler. Natürlich werden durch Verbote der Methode „Lesen durch Schreiben“ die deutschen Lehrer nicht besser. Selbstverständlich muss die Lehrerbildung endlich wieder ein fachdidaktisch solides Fundament bekommen. Aber indem man die Fluchtwege beschneidet und einige Zutaten für den Kessel Buntes als schwer verdaulich kennzeichnet oder gar verbietet, kommt wenigstens wieder ein Bewusstsein dafür auf, dass es eben nicht egal ist, womit man seine Schüler füttert.