Ein Gastbeitrag von Harald Martenstein

Ich verdanke dem Gymnasium fast alles, zumindest im geistigen Bereich. Als Kind hatte ich keine idealen Startbedingungen. Dass ich heute vom Schreiben leben kann, verdanke ich vor allem meiner Schule und meinen Lehrern. Zum Glück haben sie mich gezwungen, an meine Grenzen zu gehen und meine Grenzen zu erweitern. Deshalb verteidige ich das Gymnasium, mit jeder Faser meines Herzens. Was die Bildungspolitik betrifft, wird es für mich allerdings immer schwieriger, mich zu äußern, ohne satirisch zu werden.

2014 haben etliche Bildungspolitiker einen gemeinsamen Aufruf zur „Zukunft des Gymnasiums“ veröffentlicht. Das hat mich sehr gewundert, weil „Gymnasium“ doch für viele Bildungsreformer beinahe ein Hasswort ist. Warum? Gymnasium, das hieß immer: umfassende Bildung. Und je umfassender ein Mensch gebildet ist, desto skeptischer steht er natürlich in der Regel Bildungsreformen gegenüber.

Wenn Bildungsreformer sich zur ‘Zukunft des Gymnasiums’ äußern, dann ist das ungefähr so, als ob Nordkorea einen Aufruf zur „Zukunft der Meinungsfreiheit“ veröffentlicht.

Das Turboabitur: eine typische deutsche Bildungsreform

Der Aufruf sollte das Turboabitur verteidigen. Das Turboabitur nach acht statt neun Jahren ist eine typische deutsche Bildungsreform. Das heißt, sie wird relativ unvorbereitet gegen den Widerstand vieler Eltern und nicht weniger Lehrer in hohem Tempo durchgesetzt, dann gibt es Probleme, und nach einigen Jahren wird der Menschenversuch unter heftigen Rückzugsgefechten abgebrochen. Unis beklagen, dass Siebzehnjährige einem Hochschulstudium geistig noch nicht gewachsen
sind. Man ist auch zu jung, um wirklich eine so wichtige Lebensentscheidung wie die des künftigen Berufes fällen zu können. Man darf ja nicht einmal einen Mietvertrag unterzeichnen, in Zukunft natürlich in Druckschrift. Warum soll jemand mit Anfang zwanzig in einen akademischen Beruf einsteigen? Wir arbeiten doch schon im Alter länger. Das Turboabitur hat auch dazu geführt, dass Kinder nicht selten einen zehnstündigen Arbeitstag haben – alles in allem eine super Idee, oder?

Die Autoren des Aufrufs schlugen vor, einfach die Stundenzahl und damit die Bildungsstandards zu senken. Weniger Bildung, das ist immer ihre Lieblingslösung. Wenn man die Stundenzahl nur weit genug senkt, ist sicher auch das Abitur nach drei Jahren keine Utopie mehr, und wir dürfen bald den ersten vierzehnjährigen Gehirnchirurgen begrüßen.

Seit Jahren werden auch die Schulnoten in Deutschland immer besser. Wenn man sich die Noten anschaut, dann ertrinkt das Land fast in einer Flut von Universalgenies. An der Spitze steht Berlin. In den wenigen Jahren von 2006 bis 2012 hat sich in Ber- lin die Zahl der Abiturienten mit dem Notendurchschnitt 1,0 vervierfacht.

Wenn das wichtigste Abiturwissen darin besteht, eine Lösung abschreiben zu können, könnte man die Klassen 10 bis 13 streichen

Ein Bildungsforscher, Hans Peter Klein, hat eine Abiturklausur des Leistungsfaches Biologie aus Nordrhein-Westfalen, nur so zum Spaß, einer neunten Klasse vorgelegt. Fast alle haben bestanden, einer mit 1,0. Das gleiche Experiment wurde auch mit einer Mathe-Klausur durchgeführt, mit dem gleichen Ergebnis. Hans Peter Klein hat weitergeforscht. Er hat herausgefunden, dass die Lösungen der Abituraufgaben neuerdings »dem umfangreichen Arbeitsmaterial entnommen« werden können, das den Schülern an die Hand gegeben wird.

Wenn aber das wichtigste Abiturwissen darin besteht, eine Lösung abschreiben zu können, und wenn dieses Wissen nachweislich schon in der neunten Klasse vorhanden ist, dann könnte man doch ohne Weiteres die Klassen 10 bis 13 streichen. Dieses Geld kann man sich sparen.

Hans Peter Klein ist noch einem weiteren Phänomen nachgegangen. Auffällig viele Schüler, die in Mathematik eine schlechte Note haben, eine „5“ oder „6“, wählen für die Präsentationsprüfung im Abitur ausgerechnet ihr Horrorfach Mathe. Der Schüler bekommt eine Aufgabe und hat vier Wochen Zeit, dann muss er die Lösung dieser Aufgabe öffentlich vorführen. Natürlich holen die Schüler sich Hilfe von Mathe-Cracks oder im Internet, wo sich sehr schöne Präsentationen zu den gängigsten Aufgabenstellungen finden lassen. Schüler, die vorher nichts kapiert haben, können plötzlich von ihrem ausgedruckten Papier ablesen, wie es geht. Nicht wenige, die vorher auf „6“ standen, gehen mit einer „2“ aus der Prüfung hinaus, man muss die jungen Menschen also nur in Ruhe im Internet recherchieren lassen. Damit ist bewiesen, dass Lehrer nur schaden. Man kann sie alle entlassen.

Das Abitur wird immer einfacher, damit es soziale Gerechtigkeit gibt. Das Abitur soll kein Privileg von Besserlernenden oder Besserwissenden mehr sein, fast alle Schüler sollen es bekommen. Weil aber nun einmal nicht alle Menschen so intelligent, ehrgeizig oder fleißig sind, dass sie ein schwieriges Abitur ablegen können, muss es einfach sein. Da habe ich eine wunderbare Idee zur Bekämpfung der Armut: Die Regierung sollte Geld drucken und jedem Bundesbürger eine Million Euro in die Hand drücken. Das ist das gleiche Prinzip.

Seit Jahren höre ich außerdem, die Ausgaben für Bildung müssten steigen. Ich bin, seit ich die Notenstatistik kenne, gegenteiliger Ansicht. Wieso verlangen die Bildungspolitiker mehr Geld, während gleichzeitig die Schüler auf breiter Front immer besser werden? Wenn immer mehr Schüler immer bessere Schulabschlüsse bekommen, dann reicht das Geld doch. Andererseits, brauchen wir wirklich so viele Genies? Irgendjemand muss doch auch Straßen bauen und Heizungen reparieren. Ich finde, das größte Sparpotenzial beim Staatshaushalt befindet sich in den Bildungsetats. Allerdings muss es in Deutschland in jedem Fach immer noch mindestens eine Person geben, welche die Lösungen ins Internet stellt. Das kann zur Not aber auch ein Professor aus den USA machen.

Allzu oft sind Noten geschummelt

Ein anderes Reformprojekt ist die Abschaffung der Schulnoten. Die frühere Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Waltraud Wende, begründete diese Maßnahme in einem Artikel für die ZEIT damit, dass Noten unfair sind. Zitat: »Unterschiedliche Lehrkräfte bewerten dieselbe Leistung nicht zwingend mit derselben Note. Allzu oft sind Noten Glückssache!«

In Wahrheit ist es sogar noch schlimmer. Ich habe jahrelang in Mathematik durch Abschreiben sowie den Einsatz von Spickzetteln eine Note gehabt, die mit meinen tatsächlichen Kenntnissen nicht das Geringste zu tun hatte. Ich kann zählen. Mit den Grundrechenarten kenne ich mich immerhin halbwegs aus. Alles andere habe ich nie begriffen. Trotzdem hatte ich im Abitur eine drei. Allzu oft sind Noten geschummelt.

Statt Noten soll es in Zukunft ‘Kompetenzbeschreibungen’ geben. Die Lehrer müssen ausführlich Kompetenzen und Defizite jedes Schülers beschreiben. Statt eines Zeugnisses wird also jedem Schüler ein Essayband über sämtliche Facetten seiner Persönlichkeit ausgehändigt. Wenn eine Lehrerin eine Schülerin nicht mag, kann sie natürlich Folgendes machen: Sie gibt der Nervensäge keine schlechte Note, sondern beschreibt deren Verhalten in ihrem Essay in den düstersten Farben. Waltraud Wende und andere wollen auch dieser Ungerechtigkeit einen Riegel vorschieben. Im Fach Deutsch zum Beispiel soll auch ‘Zuhören’ bewertet werden. Ein Schüler, der weder lesen noch schreiben kann, immer Kaugummi kaut und niemals ein Wort sagt, findet in seinem Abiturzeugnis dann den Satz: »Ben kann gut zuhören und versteht auch manches.«

Offenbar werden, um seelische Verwundungen zu vermeiden, Schulzeugnisse den Arbeitszeugnissen angeglichen. Wenn ein Schüler die Mitschüler verprügelt, muss der Lehrer schreiben: »Tobias verfügt über gesundes Selbstvertrauen.« Trinkt eine Schülerin auf dem Schulhof Bommerlunder, heißt es: »Durch ihre Geselligkeit trägt Anna zur Verbesserung des Schulklimas bei.« Wird der Schüler aber, weil er mithilfe gefälschter Krankmeldungen geschwänzt hat, der Schule verwiesen, so heißt in Zukunft die faire Formulierung: »Lukas scheidet aus, um in einer anderen Lehranstalt eine höherwertige Tätigkeit zu übernehmen. Wir wünschen ihm vor allem Gesundheit.«

Wer über Bildung redet, redet immer auch über sich selbst. Meine Eltern hatten beide kein Abitur. In der Klasse, die damals noch „Sexta“ hieß, waren wir drei, vier Kinder, die nicht von Ärzten, Professoren, Pfarrern oder Apothekern abstammten, wir erkannten einander sofort.

Für mich war das Bildungsbürgertum ein Sehnsuchtsort

Das Wort „Bildungsbürgertum“ wird in der Politik heute oft abwertend verwendet. Das ist ein bisschen so, als ob in der Wirtschaft das Wort „Forschung“ zum Schimpfwort geworden wäre. Für mich, der im Arbeiterhaushalt der Großeltern aufgewachsen ist, war das Bildungsbürgertum ein Sehnsuchtsort, da wollte ich hin. Bildung soll heute praktischen Nutzen haben, für die Wirtschaft, sie soll funktionierende Arbeitskräfte hervorbringen, dazu gesellschaftliche Probleme lösen und nicht selten auch die politischen Ideen der Regierung in die Hirne hämmern. In der klassischen Bildungsbürgerfamilie aber hat man nicht aus Karrieregründen Latein oder Geigespielen gelernt.

Man hielt Bildung für einen Selbstzweck, für etwas Schönes, Erstrebenswertes, eine bewusstseinserweiternde Voraussetzung für ein gutes Leben, ob mit oder ohne Geld. Bildung war etwas Ähnliches wie die Grundlagenforschung in der Naturwissenschaft, der kurzfristige Nutzen stand nicht im Vordergrund. Aber der langfristige Nutzen war enorm, ein Leben lang.

Natürlich gab es in meinem Gymnasium eine soziale Selektion. Sie bestand aber nicht darin, dass diese Schule keine Arbeiterkinder aufgenommen hätte. Sie bestand darin, dass wenige Arbeitereltern es wagten, dort anzuklopfen.

Das Gymnasium, das ich mir als Ideal vorstelle, ist offen für alle Begabten, es schaut auf die Intelligenz und nicht auf die Abstammung. Aber es fordert auch Leistung. Jeder soll eine Chance auf Bildung bekommen, aber er muss sie auch nutzen. Eine Abiturientenquote von sechzig Prozent eines Jahrgangs, die durch Absenkung des Niveaus erreicht wird, ist in Wirklichkeit nur ein fauler Trick, eine Manipulation der Statistik, davon hat weder der Arbeitsmarkt noch der Abiturient etwas.

Das Gymnasium hat seit zweieinhalbtausend Jahren bewiesen, dass es gebildete und lebenstüchtige Menschen hervorbringt. Statt das Gymnasium zu bekämpfen, sollten die Bildungsreformer dafür kämpfen, dass mehr Kinder aus „bildungsfernen“ Familien (ein Politikerwort, um andere, wertende Worte zu vermeiden) aufs Gymnasium gehen dürfen. Sie sollten es aber nicht mit ihren üblichen schmutzigen Tricks tun, etwa, indem sie die Gymnasien zwingen, alle Schüler aufzunehmen, kurz, indem sie das Gymnasium zerstören und ihm nur noch seinen Namen lassen.

Die Theoretiker der Bildung glauben, dass sie es besser wissen als die Praktiker

Fast alle Eltern wissen, dass in einer Schulklasse normalerweise nicht die Braven den Ton angeben, die Streber mit den gemachten Hausaufgaben, sondern die scheinbar Starken und Lauten. Das sind die Rollenmodelle, jedenfalls bei den Jungs. Fast alle Lehrer wissen, dass zwei oder drei sogenannte schwierige Schüler das Lernklima einer ganzen Klasse ruinieren können. Es ist nicht so, dass die schwierigen Schüler (die nicht lernen wollen oder können, die laut sind, die gewalttätig sind, die ihre Lehrer offen verachten), dass diese schwierigen Schüler (die nichts dafür können, dass sie so sind) von den anderen lernen und ihr Verhalten den anderen anpassen würden. Eher ist das Gegenteil richtig.

Auf dieser falschen Grundannahme – die schwierigen Schüler lernen von denen, die keine Schwierigkeiten machen – basiert die heutige Bildungspolitik. Fast alle Bildungspolitiker und die meisten Bildungsexperten sind genau dieser Ansicht, deshalb sollen Kinder möglichst lange gemeinsam unterrichtet werden.

Das Lieblingsargument der Reformer ist die PISA-Studie, in der ein Land mit Gesamtschulen, Finnland, am besten abgeschnitten hat. Allerdings haben auch Länder, die bei PISA sehr schlecht abschnitten, Gesamtschulen – Mexiko zum Beispiel. Mangelhaft ausgestattete, übergroße Gesamtschulen in einer sozial schwierigen Umgebung führen ins Desaster, siehe Mexiko, siehe Berlin.

Die Theoretiker der Bildung glauben, dass sie es besser wissen als die Praktiker. Die Praktiker, das sind jene Eltern, die täglich mit echten Kindern zu tun haben. Die Praktiker, das sind auch viele Lehrer, die das sich seit Jahren erfolglos drehende Bildungsreformkarussell nur noch mit Sarkasmus ertragen. Statt die vorhandenen guten Schulen endlich zu stärken, mehr Schüler, mehr Lehrer, mehr Förderung, machen die Reformer den guten Schulen, zum Beispiel den Gymnasien, das Leben schwer und erfinden ständig etwas Neues.

Mit der Bildungspolitik allein lassen sich keine gesellschaftlichen Probleme lösen

Die zweite falsche Grundannahme der heutigen Bildungspolitik lautet: Mit der Bildungspolitik, ganz allein mit ihr, ließen sich gesellschaftliche Probleme lösen. In Wirklichkeit sind die Schulen damit überfordert. Eine gute Schule, wie wir sie kennen, kann und soll in Wirklichkeit vor allem eines leisten – sie kann Schülern etwas beibringen. Vielleicht schafft sie es auch, Persönlichkeiten zu formen und eine Lust am Lernen zu vermitteln, die lebenslang anhält. Das ist schwierig genug. Wenn eine Schule die frühe Erziehungsarbeit nachholen soll, die in vielen Elternhäusern nicht mehr getan wird, wenn sie grundlegende Sprachkenntnisse, motorische Fähigkeiten und soziale Grundkompetenzen vermitteln und womöglich sogar Kriminalitätsprävention leisten soll, dann handelt es sich um eine Schule neuen Typs, die völlig anders ausgestattet sein müsste als die Schulen, die wir haben.

Manchmal gebe ich Schreibkurse. Einmal haben ein paar Teilnehmer verlangt, dass wir Arbeitsgruppen bilden und „keinen Frontalunterricht“ machen. Die Teilnehmer wollten „Methodenwechsel“. Ich dachte, womöglich soll ich meine Thesen als Tanz vortragen. Aber nein, „Methodenwechsel“ ist ein Fachbegriff aus der Modekiste. Alle zwanzig Minuten sollen die Lehrer zu Teilnehmern und die Teilnehmer zu Vortragenden werden, damit die lieben Kinderchen, auch wenn sie schon vierzig sind, nicht überfordert werden. Da kann man nur hoffen, dass sich auch in der Arbeitswelt der Gedanke durchsetzt, dass keiner sich anstrengen muss, aber da bin ich skeptisch.

Ich habe mal gelesen, was über „Methodenwechsel“ so geschrieben wird: »In der Planung können Rückkoppelungsschleifen vorgesehen werden, die es ermöglichen, die Reaktionen der Adressatinnen und Adressaten in den Lernprozess zu integrieren.« In anderen Worten, es handelt sich um Ringelpiez mit Anfassen.

Diesen Wunsch haben sowohl der Kollege, der gemeinsam mit mir unterrichtete, als auch ich in brüsker Form zurückgewiesen. Der Kollege sagte, dass die Teilnehmer, falls sie der Ansicht sind, dass sie sich das Schreiben selber beibringen können, dies jederzeit gerne tun dürfen. Wir würden dann Bier trinken gehen.

Alles, was ich weiß, habe ich auf zwei Arten gelernt, durch Lesen und von Lehrern

Alles, was ich weiß, habe ich auf genau zwei Arten gelernt, erstens durch Lesen, zweitens von Lehrern. Ich kann mich noch an fast alle meine Lehrer gut erinnern. Manche habe ich geliebt, andere habe ich gehasst. Aber das war auch okay.

Ein guter Lehrer kann seine Schüler begeistern, er kann ein Vorbild sein, er … ach, was erzähle ich da. Das weiß sowieso jeder. Aber die Bildungsreformer, diese Landplage, wollen die Lehrer abschaffen. Ich war auch als Hilfslehrer in einer Grundschule, schon die Achtjährigen bilden mehr Arbeitsgruppen als der SPD-Ortsverein Erkenschwick.

Frontalunterricht ist schlecht? Wieso denn? Weil er undemokratisch ist? Das hat Mutter Natur natürlich verdammt undemokratisch eingerichtet, manche wissen mehr, andere weniger. Amputiert die Gehirne, verfüttert alle Gehirne an die Ziegen, dann haben wir die perfekte Demokratie. Ein guter Frontalunterricht bei einem guten Lehrer ist das Beste, was es gibt. Die Bildungsreformer würden ja selbst Einstein nach Hause schicken, weil es undemokratisch ist, sich von Einstein Physik erklären zu lassen, von oben herab, stattdessen machen wir alle jetzt schön einen Methodenwechsel und hören einem Ahnungslosen zu.

‘Bildung’: Horizont der Schüler erweitern oder ihren Horizont widerspiegeln?

Ich habe mich mit einer Deutschlehrerin unterhalten. Die Deutschlehrerin sagte, dass an ihrer Schule, einem Gymnasium, in der Oberstufe hauptsächlich Brecht gelesen wird. Zugunsten von Bertolt Brecht habe man Goethe weitgehend fallen gelassen. Fack ju Göhte. Begründet werde diese Bildungsreform mit dem Argument, dass Brecht »näher an der Lebenswirklichkeit der Schüler« sei.

Die Frage, ob diese Einschätzung stimmt, lasse ich mal beiseite. Ich will auch nichts gegen die Lektüre der Dreigroschenoper sagen. Ich finde nur das Auswahlkriterium irre. Wenn man in der Schule bevorzugt Stoffe behandeln soll, die nahe an der Lebenswirklichkeit der Schüler sind, dann empfehle ich für den Deutschunterricht das Buch „Die besten Flirt-Tipps für Jungs und Mädchen“. Nach einer Fußball-WM könnte man im Leistungskurs Deutsch gemeinsam die Tattoos der Fußballer lesen und interpretieren. Da kann in puncto Lebenswirklichkeit auch Brecht nicht mithalten.

Ich dachte immer, bei „Bildung“ gehe es darum, den Horizont der Schüler zu erweitern, nicht darum, ihren Horizont widerzuspiegeln. Dabei ist es natürlich ein gutes Rezept, an der Lebenswirklichkeit der Schüler anzuknüpfen. So macht es zum Beispiel Robin Williams als Lehrer in dem Schulfilm „Der Club der toten Dichter“. Ein reaktionärer Film. Beweis: Unter anderem geht es um Shakespeare.

Die Schule ist mit ihrer Hauptaufgabe, Bildung, gut ausgelastet

Im vergangenen Jahr hat eine Schülerin mit einem Tweet eine bildungspolitische Debatte ausgelöst. Naina aus Köln schrieb auf Twitter: »Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.«

Mehr als 20 000 Menschen mochten das, sogar die Bildungsministerin Johanna Wanka antwortete. Ob Naina in der Schule wirklich so eine polyglotte Granate ist, wie sie behauptet? Ich gestehe, dass mich Nainas Wort „Gedichtsanalyse“ ein bisschen misstrauisch gemacht hat – nennt man so was nicht eher „Interpretation“? Es gab, neben Zustimmung, auch viel Kritik.

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Simone Raatz schrieb: »Vier Sprachen, Hut ab – mit diesem Intellekt ist man doch sicher in der Lage, sich die nötigen Informationen selbst zu beschaffen.« Ich mochte diese Antwort. Noch lieber mochte ich allerdings die Twitter-Antwort von „Hermione“: »Schade, dass an Gymnasien nicht gelehrt wird, dass man auf Rolltreppen rechts steht.«

Wir dürfen die Schule mit diesem Zeug nicht überfordern. Es ist nicht der Job der Lehrer, die verpeilte Naina fit zu machen für den Alltag. Die Schule ist mit ihrer Hauptaufgabe, Bildung, gut ausgelastet. Und der Staat ist nicht für jeden Pipikram zuständig, zum Beispiel dafür, jungen Bürgern zu erklären, wie man eine Wohnung mietet.

Zum Schluss gestatten Sie mir noch etwas Privates:

Die politische Elite Deutschlands mit auffällig vielen Sitzenbleibern

Ich bin traumatisiert durch die Tatsache, dass ich zu keiner einzigen gesellschaftlichen Opfergruppe gehöre und in jeder gottverdammten Debatte immer Teil der Tätergruppen bin, Männer, Deutsche, Weiße, Besserverdiener. Das ist ein Scheißgefühl. Ich finde, wir Mehrfachtäter sollten als Opfergruppe anerkannt werden.

Jetzt habe ich gelesen, dass Menschen, die in der Schule sitzengeblieben sind, durch diese demütigende Erfahrung ihr Leben lang traumatisiert sind, deswegen soll das Sitzenbleiben demnächst überall abgeschafft werden. Da wäre ich am liebsten gegen die Wand gerannt vor Wut. Das wäre meine Chance gewesen. Ich bin in der achten Klasse wirklich um ein Haar sitzengeblieben, dreimal Fünf, einmal eine Vier minus im Zwischenzeugnis. Aber nein, die mussten mir ja am Ende unbedingt viermal Vier minus geben.

Fast alle Leute, die ich kenne, und die mal sitzengeblieben sind, haben ganz ordentliche Karrieren hingelegt, richtig gestört wirkt keiner von denen. Die politische Elite Deutschlands besteht sogar aus auffällig vielen Sitzenbleibern. Die Ministerpräsidenten Stoiber und Kretschmann sind sitzengeblieben. Peer Steinbrück sogar zweimal. Eine Sitzenbleiberin, Edelgard Bulmahn, hat es bis zur Bundesbildungsministerin gebracht.

Ich wollte aber herausfinden, wie es den echten Sitzenbleibopfern geht, also Menschen, die durch ihr Sitzenbleibtrauma wirklich geschädigt sind. Wie verarbeitet man das? Ich bin kein Zyniker. Ich bin, auf meine Art, schon auch sensibel. Also habe ich mir die Finger schrundig gegoogelt auf der Suche nach einer Sitzenbleiber-Selbsthilfegruppe, nach Sitzenbleibtrauma-Therapeuten oder nach den Anonymen Sitzenbleibern. Aber ich habe nichts gefunden. Als ich „Sitzenbleibopfer“ gegoogelt habe, kam ein Artikel mit der Überschrift: Warum Hugo Chávez auf seinem Öl sitzen bleibt.

‘Abschaffung der Führerscheinprüfung’ auf die Tagesordnung der Politik

Es könnte natürlich sein, dass die Scham der Opfer so groß ist, dass sie sich nicht mal trauen, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Aber ich halte etwas anderes für wahrscheinlicher. Nämlich, dass eine Opfergruppe zur Opfergruppe erklärt wird, bevor die Opfer selbst überhaupt kapiert haben, dass sie Opfer sind. Es gibt bestimmt noch andere unentdeckte Opfergruppen, weiße Flecken auf der Opferlandkarte. Da habe ich noch mal nachgedacht, und mir ist etwas eingefallen, was ich all die Jahre verdrängt hatte. Jetzt breche ich mein Schweigen. Ich gebe der Scham eine Stimme.

Ich war achtzehn. Ich musste rechts ranfahren. Ein alter, weißer Mann sagte: »Steigen Sie aus.« Vor allen Leuten musste ich aussteigen.

Was hatte ich Schreckliches getan? Muss man einen jungen Menschen öffentlich demütigen, nur weil er zwei Stoppschilder übersieht? Wollen wir, dass ein Achtzehnjähriger Angst haben muss, seinen Eltern zu beichten, dass er durch die Prüfung gefallen ist? Dass über ihn getuschelt wird: »Das ist ein Durchfaller«? Wollen wir, dass ein Fahrschüler die komplette Prüfung wiederholen muss, obwohl er nur vier oder fünf Verkehrszeichen nicht kennt? Nein, das kann niemand ernsthaft wollen. Deshalb gehört jetzt das Thema „Abschaffung der Führerscheinprüfung“ auf die Tagesordnung der Politik.