Gastbeitrag von Prof. i.R. Wolfgang Kühnel

Es ist Ihnen vielleicht nicht aufgefallen, aber am 15. Oktober 2020 war „ein historischer Tag für die Bildung in Deutschland“. Wer sagt das? Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz in einer Pressemitteilung unter dem Titel: „KMK verabschiedet zukunftsweisende Ländervereinbarung und richtet Ständige Wissenschaftliche Kommission ein“.

Man habe „wegweisende Entscheidungen getroffen“ zu „mehr Einheitlichkeit bei der Bildung“. Es heißt weiter: „Im Vordergrund stehen die Qualität und die inhaltliche Weiterentwicklung des gesamten Bildungswesens.“ Ein wichtiger Punkt sei auch die „Bildung in der digitalen Welt“. Was zunächst nach den üblichen Worthülsen klingt, könnte sich rückblickend tatsächlich als wegweisende, historische (Fehl-)Entscheidung herausstellen, denn dieser Beschluss enthält ganz klammheimlich den Abschied vom Gymnasium, wie wir es kennen. Es soll laut Art. 29 dieser Vereinbarung künftig nur noch drei Arten von Schulformen geben :

  1. diejenigen, die zum Ersten Schulabschluss (früher: Hauptschulabschluss, zwischendurch auch: Berufsbildungsreife) führen,
  2. diejenigen, die zum Ersten Schulabschluss und zum Mittleren Schulabschluss (früher: Mittlere Reife) führen,
  3. diejenigen, die zu allen drei Schulabschlüssen führen – einschließlich Abitur.

Das Wort „Gymnasium“ kommt dabei nicht mehr vor, es ist der „Einheitlichkeit“ zum Opfer gefallen. Also ist nach diesem Beschluss  der KMK ein Gymnasium künftig eine Art Gesamtschule, die nur noch eine andere, etwas altmodische Bezeichnung in ihrem Briefkopf hat, aber in ihrer Funktion der Gesamtschule voll gleichgestellt ist.

Auch am Gymnasium muss nun logischerweise ein Erster Schulabschluss (früher: Hauptschulabschluss) erworben werden können. Was mag das für die Schulempfehlung nach Klasse 4 zur Folge haben? Vielleicht, dass ganz offiziell Schüler mit jeder (!) Schulempfehlung am Gymnasium angemeldet werden können, weil das ja universell alle (!) Schulabschlüsse anbietet? Aber so detailliert ist dieser KMK-Beschluss dann doch nicht. Sollte uns das beunruhigen?

„Wissenschaftliche“ Beiträge als Feigenblatt

Die neue „Ständige Wissenschaftliche Kommission“ wird übrigens aus vier Leitern von bereits bestehenden Institutionen (darunter das IQB und das Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien) und aus zwölf für zunächst drei Jahre berufenen Mitgliedern „aus dem Bereich der Bildungsforschung und angrenzender Disziplinen“ bestehen. Diese Institutionen sind eng miteinander verwoben und im Wesentlichen mit den selben Personen besetzt.

Man kann sich schon vorstellen, welche Bildungsforscher das so etwa sein werden. Die Zusammensetzung soll allerdings „die unterschiedlichen Bildungsbereiche annähernd widerspiegeln“. Dass auch nur eine einzige Person dabei sein wird, die langjährige Unterrichterfahrung mitbringt, ist ungewiss und nicht besonders wahrscheinlich.

Damit die Wissenschaft nichts vorschlägt, was die Politiker nicht haben wollen, heißt es weiter: „Die Vorschläge für das Arbeitsprogramm werden in der Amtschefskommission ‚Qualitätssicherung in Schulen‘ vorberaten.“ Die „Majestäten“ haben das erste und das letzte Wort, die Wissenschaft dient nur zur „Akzeptanzbeschaffung“, wie üblich.

Aber mit einem haben die Bürokraten der KMK wohl nicht gerechnet: Die arme Sekretärin, die das alles tippen musste, hatte schon so oft das Wort „fördern“ geschrieben, dass ihre Finger uns einen geradezu köstlichen Tippfehler beschert haben:

„Die Ergebnisse der heutigen KMK-Sitzung zeigen, dass der deutsche BILDUNGSFÖRDERALISMUS stark ist.“

Bei gesprochenen Texten würde man vielleicht von einem  „Freudschen Versprecher“ reden und Schlüsse daraus ziehen. Aber passt das nicht ganz wunderbar? Kein Satiriker oder Kabarettist hätte das besser erfinden können!

Mal wird zu wenig gefördert, mal am falschen Ort

Heute lernen die Kinder nicht mehr aktiv in der Schule, sondern sie werden nur noch passiv „gefördert“ in ihren „Kompetenzen“. Die Lehrer lernen nicht mehr in einem aktiven „Studium“ (vor dem Referendariat) die fachlichen Grundlagen ihres späteren Lehrerdaseins, sondern sie werden passiv „ausgebildet“ in der „praxisorientierten Lehrerausbildung“,  zu der in erster Linie die „Kompetenz“ gehört, ihre späteren Schüler zu „fördern“. Dazu braucht es natürlich auch eine entsprechende „Diagnosekompetenz“. Beide, Förder- und Diagnosekompetenz, müssten viel mehr Einzug in die Lehramtsstudiengänge Deutsch und Mathematik halten, so empfiehlt es dieser Tage die Köller-Kommission zur Schulentwicklung dem Land Berlin. Nur die Voraussetzungen hierfür vermisst die Kommission, weswegen sie die Schaffung einer eigenen „Funktionsstelle“ empfiehlt – das heißt, dem eigenen Lehrpersonal wird das Fördern und Diagnostizieren eher weniger zugetraut.

Seltsam und irgendwie verquer ist nur, dass ausgerechnet die so genannten  „Förderschulen“, die eben dieses „Fördern“ schon ganz klar im Namen ausdrücken, in Ungnade gefallen sind. Sie sind nicht mehr erwünscht, weil sie ja angeblich in Wahrheit exkludieren und damit „Ausgrenzschulen“ sind, die die Allgemeinen Menschenrechte aushebeln. Nur hatte das jahrzehntelang niemand bemerkt. So widersprüchlich kann die Bürokratenterminologie sein…

Oder, wie Christoph Türcke es ausdrückt: „Die Abschaffung der Sonderschulen im Namen „individueller Förderung“ ist lediglich Teil eines gesamtgesellschaftlichen Defizitbehebungs- und Fitnessoptimierungsunternehmens, das ich
Förderalismus nennen möchte.“

Den „Bildungsförderalismus“ jedenfalls sollte man sich merken und möglichst oft in künftige Debatten einbringen. Man hätte schon viel früher darauf kommen sollen! Das klingt doch viel besser und treffender als dieser schnöde „Bildungsföderalismus“,  der uns nur negativ erinnert an das ganze Bildungschaos mit G8/G9, mit Zank um die zerfransten Sommerferien, mit unfreundlichen Schlagzeilen in der Presse über das Abitur und dem unwürdigen Streit um die Finanzierung der Digitalisierung durch den Bund. Aber im Fördern ist aller Streit vergessen, alle Länder sind
wieder einig und ziehen an einem Strang, wie wunderbar. Fördern, schöner Götterfunken…

Der Autor, Prof. i.R. Wolfgang Kühnel