Ein Blick in die Geschichte der Pädagogik zeigt, dass man den Begriff „Fehler“  bis in die 1930er Jahre eher im Sinne eines Verhaltensfehlers, zur Kennzeichnung eines Fehlverhaltens verwendete. Danach erst wandelte sich die Bedeutung zum Lern- und Leistungsfehler im Unterricht.

In den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts interessierten sich zwei deutsche Pädagogen, Herrmann Weimer und Arthur Kiesling, für Fehler in unterrichtlichen Lernprozessen. Sie schrieben Bücher und Aufsätze zu Themen wie Fehlerentstehung, Fehlerbehandlung, Fehlerbewertung und Fehlerverhütung, z.B. „Die Bedingungen der Fehlsamkeit“.  Weimer fasste all diese Überlegungen unter dem Oberbegriff einer „schulpädagogischen Fehlerkunde“ zusammen.

Man kann manches an dieser Fehlerkunde mit Recht kritisieren und auf ihr methodischen und systematischen Schwächen hinweisen. Aufgrund dieser wissenschaftlichen Mängel konnte sie sich langfristig weder in der schulischen Praxis noch in der Erziehungswissenschaft etablieren und geriet schnell wieder in Vergessenheit. Das Fehlerthema wurde in den Erziehungswissenschaften in der Folge – von einzelnen Ausnahmen abgesehen –  nicht mehr wahrgenommen. Fehler wurden bis heute schlicht und ergreifend als unliebsame, aber unvermeidliche Begleiterscheinung des Unterrichts angesehen.

Um einen pädagogisch sinnvollen und fruchtbaren Umgang mit Fehlern zu finden, könnte man bei aller berechtigten Kritik jedoch einige bemerkenswerte Denkansätze dieser vergessenen Fehlerkunde wieder aufgreifen. Das möchte ich im Folgenden tun:

  1. Fehler sind nicht beabsichtigt, aber geschehen auch nicht zufällig. Ihre Regelhaftigkeit im Auftreten verweist auf tiefer liegende Ursachen oder Bedingungen, die es zu finden gilt. Das Fehlermachen ist ein komplexes Geschehen und an vielfältige, aber ganz bestimmte Voraussetzungen gebunden. An der Fehlerentstehung wirken internale, subjektive aber auch externale, soziale und unterrichtliche Ursachen mit. Nicht nur Bedingungen im Schüler wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder logisches Denkvermögen, sondern auch äußere Lernbedingungen wie zum Beispiel die Art des Unterrichtens können für Fehlleistungen verantwortlich gemacht werden. Meist wird die Ursachensuche ein Bedingungsgefüge, ein Zusammenwirken innerer und äußeren Bedingungen, zutage fördern. Es gibt somit auch nicht den Rechtschreib-, Lese- oder Rechenfehler schlechthin, sondern die unterschiedlichsten Fehlerarten und Fehlerformen (Geläufigkeitsfehler, Perseverationsfehler, Ähnlichkeitsfehler, Mischfehler, Gefühlsfehler, …).

Welche Lehrkraft macht sich heutzutage bei mündlichen oder schriftlichen Lernzielkontrollen Gedanken über die Ursachen der angestrichenen oder beobachteten Fehler und bezieht bei diesen Überlegungen auch noch das eigene Unterrichten mit ein? Welche Lehrkraft kommt auf die Idee, über die Fehler der Schüler nachzudenken, sie zu analysieren, um nach Regelhaftigkeiten in den Fehlern zu suchen, die dann entsprechende Lernhilfen und Fördermaßnahmen nahelegen würden? Welche Lehrkraft schließt aus den Fehlern der Schüler auf die Qualität der eigenen Lehre, die offensichtlich bei einigen Schülern mehr oder weniger misslungen oder gescheitert ist und verändert werden müsste?

  1. Der schriftliche Fehler, als der häufigste im unterrichtlichen Geschehen, wird in der Fehlerkunde als besonders problematisch beschrieben. Zunächst muss klar sein, dass der schriftlich festgehaltene Fehler nicht der Fehler an sich, nicht der Fehlvorgang selbst ist, sondern nur sein „erstarrter Ausdruck“. Nur die Analyse der Bedingungen, unter denen er entstanden ist, würde den Fehler, das Fehlende, den falschen Prozess sichtbar machen. In der schulischen Praxis vergeht in der Regel jedoch eine gewisse Zeit, bis eine Lehrkraft eine schriftliche Lernzielkontrolle korrigiert und dabei auf die Fehler der Schüler stößt. Durch diese Ungleichzeitigkeit von Fehlerentstehung und Fehlerbewertung kann sich die Lehrkraft kaum mehr die Entstehensbedingungen eines Fehlers vergegenwärtigen. Ob sich hinter dem Fehler zum Beispiel eine Unkonzentriertheit oder eine echte Wissenslücke verbirgt, lässt sich nach Tagen kaum mehr beurteilen.

Aus diesem Grund wird in der Fehlerkunde die mündliche Leistungsfeststellung empfohlen. Hierbei lassen sich die situativen Umstände besser erfassen oder durch direktes und gezieltes Nachfragen rasch klären.

  1. Einer fehlerhaften Leistung steht immer eine Leistungsanforderung gegenüber. Beide aufeinander bezogenen Aspekte müssen bei der Fehleranalyse einer Bewertung unterworfen werden. Es gibt hohe und niedrige Anforderungen und es gibt leichte und schwerwiegende Fehler. Es gibt viele und wenige Fehler. Das ledigliche Feststellen und Aufaddieren der Fehler entspricht nicht den Anforderungen an eine umfassende und pädagogisch hilfreiche Fehleranalyse. Eine differenzierte und eben nicht arithmetisch vereinfachte Fehlerbewertung ist gefragt. Wenn es schon Arithmetik sein muss, dann doch wenigstens die Berechnung eines Fehlerquotienten.

Wenn ein Lehrer die Information erhält, einer seiner Schüler habe 90 Prozent der diktierten Wörter richtig geschrieben und 10 Prozent falsch, kann er damit schon bedeutend mehr anfangen als nur mit der Feststellung: 20 Fehler. Erfahrene Legasthenietherapeuten wissen, dass es sehr wohl ernst zu nehmende, aber durchaus auch zu vernachlässigende Fehler gibt.  Beispielsweise werden Verstöße gegen die „lautgetreue“ Schreibung als schwerwiegende Fehler betrachtet. Auf die falsche Schreibung von „Qu“ verschwendet der Therapeut kaum Zeit und Energie, da es sich hierbei um einen sehr seltenen Rechtschreibfall handelt und damit um einen nahezu bedeutungslosen Fehler.

Auch Fehler haben mindesten zwei Seiten: eine positive und eine negative. Darum wird es im nächsten Text gehen.

Literatur als Quellenangabe und zur Vertiefung:

Weingardt, M. (2004): Fehler zeichnen uns aus. Transdisziplinäre Grundlagen zur Theorie und Produktivität des Fehlers in Schule und Arbeitswelt. Klinkhardt: Bad Heilbrunn