Ich möchte eine provokante, aber gut belegbare Hypothese aufstellen. Der Mathematikunterricht ist nicht deshalb in einem schlechten Zustand, weil es an Geld fehlt, sondern weil Mathematik unerwünscht ist. Genauer gesagt: In der heutigen Didaktik dominieren Werte, die mit guten Leistungen in Mathematik nicht vereinbar sind. Weite Teile der Bildungspolitiker, Pädagogen, Didaktiker und auch der Eltern und Schüler verachten die Werte, die eng mit Mathematik verbunden sind, oder behandeln sie mit Geringschätzung.

Ich denke dabei an die Werte Vernunft, Leistung und Selbstdisziplin:

  1. Mathematik ist nüchtern, eindeutig und emotionslos – der Supergau der überindividualisierten, emotionalisierten Gesellschaft.
  2. Mathematische Leistungen korrelieren stark mit Hochleistung, Intelligenz und männlichem Geschlecht. Das sieht man nicht gern, sondern nennt es „elitär“.
  3. Mathematik ist als solches nicht immer „nützlich“, aber immer geistig anstrengend. Was nicht nützlich ist, wird aber nur geduldet, wenn es „Spaß macht“. Doch das tut Mathematik nicht, ohne dass man sich anstrengt – ein Teufelskreis.

Falls Ihnen diese Begründungen zu akademisch erscheinen, habe ich auch eine aus der Popkultur zu bieten: Mathematisch Interessierte oder Hochleistende gelten überwiegend als Nerds und Streber und nicht als Menschen, die Respekt verdienen. Das kennen Sie aus Ihrer eigenen Schulzeit. Sie sehen es auch in den Simpsons, Friends oder Big Bang Theory. Wer muss um Akzeptanz kämpfen – die intellektuelle Lisa oder der Rotzlöffel Bart? Welchen langweiligen Beruf muss Chandler aufgeben, um als Figur interessanter zu werden? Den des Datenauswerters. Über wen schmunzeln die Zuschauer von oben herab bei Big Bang Theory: Über die promiskuitive und ungebildete Kellnerin Penny? Oder den höchstleistenden Physiker Leonard und seinen klischeehaft im Autismusspektrum angesiedelten Kumpel Sheldon?

Die einzige Ausnahme in der Popkultur der letzten Jahrzehnte sind Tony Stark / Iron Man, Hulk / Dr. Bruce Banner und mit viel gutem Willen noch Jeff Goldblum in der Rolle des Wissenschaftlers in Independence Day (aber die Figur war so nebensächlich, dass mir nicht einmal mehr der Name einfällt). Der Punkt dürfte klar sein.

Wie Wolfgang Kühnel sagt: Früher hatte man mal Angst vor schlechten Noten, heute hat man welche vor zu guten. Es gibt sogar schon Studien zu der Frage „Was kann ich selbst tun, um trotz guter Noten (!) in meiner Klasse akzeptiert zu werden?“.

Lassen Sie mich die Details dieser Punkte näher beleuchten, denn die Hintergründe dazu erklären vieles, was im heutigen Schulsystem falsch läuft.

Der „PISA-Schock“ und der ganz offensichtlich misslungene Versuch, ihn zu heilen, erklärt den wesentlich verschlechterten Mathematikunterricht nur vordergründig. Ja, in Reaktion auf das schlechte Abschneiden deutscher Schüler in PISA wurden stärker sprachlich formulierte und „kompetenzorientierte“ Aufgaben in den Vordergrund gerückt. Aber für mich ist das noch keine ausreichende Erklärung. Ich frage mich: Warum ist die verfehlte Reaktion genauso ausgefallen, wie sie ist? Warum war die deutsche Pädagogik offen für „Reformen“, die zur „Entkernung des Mathematikunterrichts“ geführt haben, wie sie Dr. Dieter Remus und Prof. Sebastian Walcher 2016 in einem lesenswerten Artikel beschreiben?

Welche Ideologien ermöglichen Schildbürgerstreiche wie diesen: In Berlin fällt ein Drittel der angehenden Lehrer durch die Matheprüfung. Dennoch dürfen diese Lehrer später Mathe unterrichten, und zwar als „Neigungsfach“: So nennt man es dort, wenn ein Lehrer ein Fach unterricht, das er nicht kann, aber irgendwie mag.

Die Beitragsreihe über die sozialpolitischen Ursachen der „Entkernung“ unseres Mathematikunterrichts gehört zu unserer umfassenden Mathe-Reportage und hat 4 Teile.

Sie befinden sich hier: Nerds und Streber – die Wurzel allen Übels (Teil 1/4)

Mathe passt nicht zur überindividualisierten Gesellschaft (Teil 2/4)

Die Besten in Mathe sind intelligente Jungs. Pfui! (Teil 3/4)

Das Leben sei ein Ponyhof! (Teil 4/4)

Das gesamte Dossier über den Niedergang des Mathematikunterrichts wird hier vorgestellt: