oder: Was wäre die deutsche Sonderpädagogik ohne die „bahnbrechenden“ Forschungsergebnisse aus den Vereinigten Staaten?

Schon geraume Zeit lebt die deutsche Sonderpädagogik unter anderem davon, dass begnadete Wissenschaftler und natürlich auch Wissenschaftlerinnen ihr Ohr extrem nah am Puls der US-amerikanischen Forschung haben. Drei Beispiele mögen dieses Phänomen näher beschreiben:

1. Individual Education Plan (IEP)

Der IEP beschreibt das Unterrichten von Kindern und deren Förderung in drei zentralen Schritten: Ausgangspunkt des Lehr-Lernprozesses ist die Analyse der Lernausgangslage oder der pädagogischen Situation mit den Fähigkeiten, Kompetenzen und intrapersonalen Kompetenzen eines Kindes sowie den vorhandenen Unterstützungsressourcen in seinem sozialen Kontext. In wesentlichen Entwicklungsbereichen wird also der Ist-Stand erhoben, der einem Soll-Zustand in Form von Lehr- oder Lernzielen gegenübersteht. Auf dieser Basis wird ein Förder- oder Unterrichtskonzept entwickelt, das umgesetzt und im letzten Schritt  evaluiert wird. Das heißt, die Lehrkraft prüft am Ende des Prozesses, was ihre Schülerinnen und Schüler bei der ganzen Veranstaltung gelernt haben und was noch nicht.

Nun stelle man sich die Ungeheuerlichkeit vor: deutsche Sonderpädagogen, deutsche Didaktiker, deutsche Lehrkräfte kannten diese elementaren Zusammenhänge des Unterrichtens bisher nicht! Fortschrittliche und polyglotte deutsche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen waren Gott sei Dank in der Lage, dieses neue Wissen aus den Vereinigten Staaten zu transferieren, zu translatieren und zu transformatieren. Sie fanden mit „Förderplan“ oder „individueller Entwicklungsplan (IEP)“ auch gleich gelungene Übersetzungen ins Deutsche, so dass die etwas schlichteren Gemüter unter uns – wenn sie schon diese hoch komplexen Zusammenhänge nicht verstehen – sie doch wenigstens benennen können.

Die tatsächliche Tragweite der Erkenntnis vom Förderplan wird jedoch erst offenbar, wenn man sich vor Augen führt, dass kurz nach Bekanntwerden dieser neuen Erkenntnisse die Lehrkräfte in fast allen Bundesländern von der jeweiligen Schulverwaltung verpflichtet wurden, solche Förderpläne für alle Kinder mit Förderbedarf anzufertigen. Im inklusiven Unterricht haben sogar alle Schüler und Schülerinnen ohne Ausnahme ein verbrieftes Recht auf ihren individuellen Förderplan.

Böse Zungen behaupten, den Schulverwaltungen ginge es mit dieser Maßnahme weniger um die Verbesserung der Unterrichtsqualität, sondern vielmehr um die Verbesserung der Kontrolle von Lehrkräften, die sich vielleicht doch – so das weitverbreitete und tief sitzende ministerielle Misstrauen – einen allzu leichten Job machen und ihre Aufgaben nicht mit dem nötigen Ernst erledigen.

2. Responsive-to-intervention-Ansatz (RTI)

Der RTI-Ansatz zeichnet sich durch drei Stufen der Intervention aus. Lernen Kinder im Unterricht nicht in ausreichendem Maße das, was ihnen gelehrt wird, so legt Stufe I der Lehrkraft nahe, den eigenen Unterricht zu überdenken und gezielt Verbesserungen vorzunehmen, die hoffentlich dann den gewünschten Lernerfolg mit sich bringen. Gelingt dies wider Erwarten nicht, greift die Lehrkraft nun auf Modellstufe II zu gezielten und bewährten, zusätzlichen Fördermaßnahmen im Einzel- oder Gruppenunterricht. Bleiben auch hierbei die gewünschten und geplanten Lernerfolge aus, so empfiehlt Stufe III mit einer spezifische sonderpädagogische Förderung, den Gang zum Spezialisten.

Dieser neue Förderansatz, dieses neue prozessorientierte Fördermodell löste bei deutschen Sonderpädagogen geradezu stürmische Begeisterung, wenn nicht gar Euphorie aus. In Fachzeitschriften und auf wissenschaftlichen Kongressen wurde und wird es noch immer als bahnbrechend und als in besonderer Weise praxis- und inklusionstauglich gefeiert. Dankbar ruft die deutsche Sonderpädagogenschar den US-amerikanischen Kollegen und Kolleginnen über den großen Teich zu: „Endlich, endlich, zeigt ihr uns einen Weg aus dem Tal der Ahnungslosen. Endlich besitzen auch wir ein hilfreiches Prozessmodell zur Gestaltung unterrichtlicher Lernprozesse speziell zur Förderung von Kindern mit Lernbeeinträchtigungen und das auch noch segregations- und lactosefrei. Endlich, Endlich.“

3. Classroommanagement (CRM)

Das Konzept des CRM fußt auf Erkenntnissen jahrelanger US-amerikanischer Forschung zu „Techniken und Strategien die von Lehrkräften eingesetzt werden, um Ordnung aufrecht zu erhalten, Lernmotivation der Schüler zu fördern sowie mit Problemen umzugehen“; so ist es im Handbook of Classroom Management nachzulesen. Damit Schüler und Schülerinnen sich wohlfühlen und gut lernen sind fünf Dimensionen des Classroom-Settings zu beachten:

  1. Multidimensionalität – ein singuläres Ereignis kann viele Konsequenzen haben.
  2. Simultanität – vieles passiert in einem Klassenzimmer gleichzeitig.
  3. Unmittelbarkeit – das Geschehen im Klassezimmer ist schnelllebig und bedarf schneller Adressierung.
  4. Unvorhersehbarkeit – viele Dinge entwickeln sich nicht immer erwartungsgemäß.
  5. Historizität – „Gewohnheiten“ sind schnell etabliert und beeinflussen das weitere Schuljahr.

Auch hier müssen die deutschen Didaktiker und Bildungsforscher beschämt zugeben: Das wussten sie allzu lange Zeit nicht. Danke, danke den unermüdlichen Forschungen aus Übersee und den deutschen Kollegen und Kolleginnen, die bereits im Leistungskurs Englisch ihre zentralen Forschungskompetenzen erworben haben…
Diese doch etwas armselige „Übersetzungsforschung“ oder besser „translation research (TR)“ ist für mich nur noch mit Humor zu ertragen und dieser mein Humor verhindert Gott sei Dank, dass ich in eine tiefe Depression falle und den Glauben an die deutschsprachige Sonderpädagogik und Didaktik verliere.

Mit freundlichen und kollegialen Grüßen an die scientific community (SC)
Erwin Breitenbach