Vertreter der reinen Inklusionslehre fordern vehement, tradierte Kategorisierungen durch die Idee eines unteilbaren Spektrums individueller Unterschiedlichkeit zu ersetzen. Unvermeidbar sei eine Loslösung von der Systematik der sonderpädagogischen Förderschwerpunkte und damit auch einen Verzicht auf Behinderungsbegriffe, die an den Förderschwerpunkten ausgerichtet sind. Pädagogen sollen demnach ihre Schüler nicht mehr als geistig behindert, als hochintelligent, als lese-rechtschreibschwach, als schwerbehindert, als sozial-emotional gestört usw. wahrnehmen und verstehen, sondern all diese Kategorien gehen in der menschlichen Vielfalt, im Heer der namenlos Verschiedenen auf, für die es keine spezifische Begrifflichkeit mehr braucht. Deswegen vermeiden Vertreter inklusiver Konzepte auch, in der Sprache des sonderpädagogischen Förderbedarfs zu denken und zu handeln. Das zentrale Argument für eine solche Dekategorisierung lautet, dass diese Zuschreibungen oder Kategorien die betroffenen Menschen diskriminieren, benachteiligen und sogar schädigen.

 

Bei genauer Betrachtung gibt es allerdings eine solche Dekategorisierung, die quasi einen begriffsfreien Raum zurücklässt, gar nicht. Ahrbeck (2011, 2014) erklärt: Sobald eine bestimmte Begrifflichkeit im offiziellen Sprachgebrauch aufgelöst wird, tritt an ihre Stelle mehr oder weniger schnell andere formelle oder informelle Kategorien der Besonderheit. In gleicher Weise argumentiert Niedecken (2000), wenn sie aus den angloamerikanischen Ländern berichtet. Dort sei eine Tendenz weit verbreitet, mit neuen, möglichst neutralen sprachlichen Etikettierungen Diskriminierung zum Beispiel von Menschen mit geistiger Behinderung aus der Welt zu schaffen. Der Erfolg all dieser Anstrengungen bestehe jedoch lediglich darin, dass sich das Alte in neuer Verkleidung reproduziere. In der Praxis kennt man diese Entwicklung z.B. aus integrativen Kindergärten: Die Kinder, für die Leistungen der Heilpädagogen finanziert werden, sind im dortigen Sprachgebrauch nicht die „behinderten Kinder“, sondern die „Integrationskinder“. Gemeint ist genau die selbe Gruppe.

 

Stinkes (2013) macht entsprechend darauf aufmerksam, dass menschliches Wahrnehmen immer ein Wahrnehmen von etwas als etwas ist und dass mit dem Wahrnehmen deshalb zwangsläufig stets eine Kategorisierung einhergeht. Vor allem auch das Diagnostizieren bedeutet immer kategorisieren und klassifizieren. Diagnosen sind Kategorien, mit denen menschliches Verhalten erklärt und prognostiziert wird und mit deren Hilfe handlungsrelevanten Entscheidungen getroffen werden sollen. Eine logische Kategorisierung ist eine Notwendigkeit des menschlichen Denkens – eine Diskriminierung, also ungerechte Behandlung aufgrund dieser Kategorisierung, ist ein Unrecht, das durch Sprachzensur nicht verhindert wird, sondern nur durch moralische Bildung.

 

Dies ist der 3. Artikel aus unserer Reihe „Inklusive Diagnostik“. Sie finden alle Artikel der Reihe unter diesem Schlagwort.

 

 

Literaturhinweise