„Wird mein Kind später gut und gerne lesen, wenn ich ihm jetzt viel vorlese?“ Das fragte mich gestern ein Vater beim Elternabend meiner Vorschulgruppen. Eine Frage, die ich schon oft gehört habe – und deren andere Version ich häufig von den Eltern größerer Kinder höre. Sie lautet dann: „Wir haben doch früher sooo viel vorgelesen, das fand unser Kind auch toll. Warum liest es dann jetzt, als Schulkind, so wenig und schlecht?„. Was also bringt das Vorlesen für das Kind als späteren Leser – und was nicht? Was können Eltern tun, damit ihr Kind als Schulkind einmal gerne selbst liest?

Was bringt das Vorlesen?

Vorlesen bedeutet Nähe, Beziehung, Heimat. Ein Mensch nimmt sich Zeit für mich, er unternimmt eine Anstrengung, um mir eine Geschichte zu erzählen. Und im besten Fall hat er selbst Freude an dieser Anstrengung, die gar keine Last für ihn ist. So verstehen Kinder ganz ohne lange Erklärungen, was es bedeutet, wenn eine Arbeit (wie die des elterlichen Vorlesens) beglückend, bereichernd für den wird, der sie leistet. Und das ist wichtig! Denn genau das sollen die Kinder später einmal selbst erleben, wenn sie das Lesen lernen: Es ist anstrengend. Aber es macht glücklich.

Vorlesen kann auf diese Art Freude an Büchern wecken. (Gute Kinderbücher für Erstleser, aber auch zum Vorlesen, finden Sie in Dr. Stiehlers Kinderbibliothek.) Vorlesen kann Kinder an sie gewöhnen statt an TV und Tablets – freilich kommt es dabei auf die zeitliche Dosis an. Neben vielen Stunden TV pro Woche werden ein paar Minuten Gute-Nacht-Geschichte auf Dauer wenig Ausdauer im Mitdenken, Sich-Hineinversetzen und Zuhören aufbauen. Wenn das Vorlesen gar nur als Schlafmittel dient, man leise aus dem Zimmer schleicht, während das Kind (endlich?) über der Geschichte eingeschlafen ist, dann hat das nur noch wenig mit literarischer Erziehung zu tun.

Im besten Fall trägt Vorlesen aber – neben den o.g. erzieherischen Effekten – zu einem größeren Wortschatz bei und zur Fähigkeit, sich in Dinge hineinzuversetzen, die man nicht sehen kann. Über Dinge zu sprechen, die nicht da sind, die sog. Dekontextualisierung, ist schon im Babyalter wichtig für die Denk- und Sprachentwicklung. Im Vorschulalter sollten Kinder mit zunehmender Sicherheit und längerer Konzentration über Dinge sprechen und nachdenken können, die sie nicht gerade sehen oder tun.

Was Vorlesen also leistet: Erleben, dass manche Freuden nur durch eigene Anstrengung möglich werden; Heimat, Geborgenheit und Bindung; Unabhängigkeit von anderen Medien; Wortschatz und abstrakteres Denken.

Was ist nötig, um vom Zuhörer zum Leser zu werden?

Daraus lässt sich schon erahnen, warum ein Kind, das sich gerne vorlesen lässt, keineswegs automatisch zu einem Schulkind wird, das gerne selbst liest. Der erwachsene Vorleser zehrt von den Ergebnissen seines eigenen Leselernprozesses: Er kann flüssig lesen, so dass man gerne zuhört; er hat große Sicherheit im Erlesen und kann vorausschauend lesen, so dass er für verschiedene Figuren und Situationen verschiedene Stimmlagen verwenden kann; er besitzt einen großen Wortschatz, der ihn zu Erklärungen befähigt. All das ist das Ergebnis von Arbeit. Von Fleiß. Von Ausdauer durch Schwierigkeiten hindurch. Eben weil es zeigt, dass bereichernde Freude erst möglich wird durch Meisterschaft in etwas, die durch Arbeit erworben sein will, ist das Vorlesen zwar die Frucht einer Anstrengung, aber kein Ersatz für sie. Anders gesagt: Sich vorlesen zu lassen ist hauptsächlich eine passive Tätigkeit. Man kann einfach genießen. Selbst die geistige Anstrengung, mitzudenken, kann man bei vielen Kinderbüchern auf ein Minimum reduzieren. Es plätschert so dahin und Mama ist da, was will man mehr. Je mehr ein Kind mitdenkt, desto besser – aber vorgelesen zu bekommen ist Entspannung, nicht Anstrengung.

Das Lesen lernen hingegen ist ein äußerst anstrengender Prozess. Der frühe und stetige Umgang mit Büchern kann Kindern zeigen, dass diese Anstrengung sich lohnt, und deshalb ist es auch so wichtig, schon früh Liebe zu Büchern zu wecken. Denn mit dem TV als Konkurrenz, der einen völlig ohne eigene Anstrengung zwischen 200 Kanälen wechseln lässt, je nachdem welcher Antrieb gerade befriedigt sein will, hat es das Lesen schwer. Und wer nicht flüssig liest, wird gar nicht erleben, wieviel schöner es ist, allein mit einem Buch in dessen Welt abzutauchen, als vor einem TV (oder hinter eine Virtual Reality Brille) zu sitzen. Wie der Leselernprozess verlaufen muss, damit ein Kind rechtzeitig flüssig liest, ist ausführlich in vielen Artikeln auf diesem Blog erklärt.

Für Eltern ist es wichtig, zu wissen: Das Vorlesen ist gut und schön. Aber im Prozess des Lesenlernens brauchen Kinder für 1-2 Jahre konsequent sanftmütige Härte, um nicht aufzugeben. Das erfordert vom Erzieher ganz andere Kompetenzen als das Vorlesen, da die Anforderungen an das Kind bei diesem Lernprozess ganz andere sind als beim Genuss einer Geschichte. Sie sind aber die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass ein Kind jemals ein guter und genießerischer Leser wird – und eines Tages seinen eigenen Kindern vorlesen kann.