Wenn man erlebt, wie unter dem Stichwort „Inklusion“ altbekannte Methoden als angebliche Neuerungen verkauft werden, denkt man zwangsläufig an Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Entsprechend lautete auch der Titel einer Fernsehsendung, die vor kurzem im Ersten lief, „Das Märchen von der Inklusion“. Leider entpuppte sich die Reportage als eher langweilig und beim Zuschauer blieb als Fazit nur: „Manchmal klappt es eben und manchmal halt nicht“. Warum das so ist, wurde nicht beleuchtet. Eltern, Lehrer, Kinder und sogar ein Wissenschaftler kamen zu Wort und erzählten von gelungenen, teilweise geglückten sowie völlig misslungenen Inklusionsversuchen an deutschen Schulen. Etwa zur gleichen Zeit erschien in der ZEIT ein Streitgespräch zwischen zwei Schulleitern von Gymnasien zu der Frage: Gehören Schüler mit geistiger Behinderung ans Gymnasium? Am Ende des Gesprächs weiß der Leser nur, dass der eine Schulleiter dafür ist und der andere dagegen. Was jedoch über persönliche Meinungen hinaus dagegen spricht, geistig behinderte Kinder das Gymnasium besuchen zu lassen, und woran Inklusion nicht nur im Einzelfall scheitert, bleibt im Dunkeln.

Ich lade Sie ein, mit mir ein wenig über diese Frage nachzudenken. Wir konzentrieren uns bei unserer Analyse auf das, was im Zusammenhang mit schulischer Inklusion in den letzten Jahren schiefgelaufen ist.

Denkfehler am Anfang

Als erstes ist zu konstatieren, dass die Anfänge der schulischen Inklusion durch eine Reihe teilweise schwerwiegender Denkfehler geprägt waren. Die fallen uns nun einer nach dem anderen auf die Füße:

  • Die in der UN-Konvention formulierten Ideen zu einer inklusiven Gesellschaft wurden bei uns nicht als Wertorientierung, als Vorstellung von einer idealen Gesellschaft verstanden, sondern als konkrete Handlungsanweisung zur Gestaltung eines Bildungssystems, als Verwaltungsvorschrift oder gar als pädagogische Theorie.
  • Alle bisherigen Erkenntnisse zum Thema Integration wurden schlagartig für obsolet und unbrauchbar erklärt, da sich Inklusion angeblich komplett von Integration unterschied. Die Pädagogik müsse neu gedacht werden, hieß es. Integration sei ein furchtbarer Irrweg gewesen, ausgedacht von eigennützigen Sonderpädagogen, deren einziges Ziel darin bestanden hätte, das Sonderschulwesen und die akademische Sonderpädagogik mit einzelnen Fachrichtungen um jeden Preis zu erhalten und damit ihr eigenes Dasein zu rechtfertigen. Angeblich zementierte die schiere Existenz von Integrationskonzepten und Sonderpädagogen das Anders-sein der Behinderten und versperrte ihnen den Weg in die Normalität.
  • Die Diskussion wurde emotional hoch aufgeladen und bar jeglicher Vernunft geführt. Wer auch nur ansatzweise zu kritischen Überlegungen gelangte, behielt diese besser für sich. Auf öffentlich geäußerte Kritik und Bedenken reagierten die Inklusionisten als Hüter der Wahrheit mit üblen Beschimpfungen und Diffamierungen. Der alles beherrschende Mainstream drängte die Nachdenklichen aus Wissenschaft und Praxis an den Rand, machte aus ihnen „Behindertenfeinde“ und brachte sie sehr schnell zum Verstummen.
  • Obwohl die UN-Konvention eine Perspektive für eine inklusive Gesellschaft entwirft, verengte man die Diskussion auf das Bildungssystem, auf die Schulen. Damit entwickelte sich die Schule zur Insel der inklusiv Seligen, umgeben von einer ausgeprägten Leistungsgesellschaft, die nach ganz anderen Regeln funktioniert. Kindergarten und Grundschule wurde zur inklusiven Spielwiese und je näher die Schule dem wirklichen Leben kam, umso stiller wurde es um die Inklusion. Nicht umsonst gibt es im Bereich der Sekundarschulen kaum Forschung zum inklusiven Unterricht und nur vereinzelt inklusive Schulversuche.
  • Inklusiver Unterricht fand zunächst im Blindflug statt. Da man die vorinklusive Didaktik, wie zum Beispiel den Unterricht am gemeinsamen Gegenstand, von heute auf morgen für gänzlich unbrauchbar erklärt hatte, musste auf die Schnelle eine inklusive Pädagogik und Didaktik her, die inhaltlich hohl blieb und sich in Allgemeinplätzen erging.
  • Begeisterte Finanzpolitiker sahen im inklusiven Schulsystem ein geniales Sparmodell. Inklusion bestand für sie in erster Linie aus dem Schließen der Förderschulen, verbunden mit beachtlichen finanziellen Einsparungen. Sehr schnell wurde jedoch klar, dass sich eine derart kostengünstige Inklusion bei Kindern mit schweren und mehrfachen Behinderungen doch nicht so einfach bewerkstelligen ließe. Allein schon die vielen nicht behindertengerechten Schulhäuser bereiteten Sorgen. Also konzentrierte man sich auf die Kinder mit Beeinträchtigungen im Kontext von Lernen, Sprache und Verhalten. Einige Bundesländer kreierten sogar eine neue Behinderungsart oder Fachrichtung: LES; ein Zusammenschluss von ehemals lern- und sprachbehinderten sowie verhaltensauffälligen Schulkindern. Man sollte LES sogar studieren können.
  • Last but not least verfielen die unter Handlungsdruck stehenden Bildungspolitiker und Schulverwalter auf die abwegige Idee, sie könnten eine solch dramatische Umwälzung und Neugestaltung des Schulwesens par ordre du mufti anordnen, ohne die Lehrkräfte und Schulleiter an der Basis zu hören und zum Mitdenken aufzufordern.

Seltsam vertraute Inklusion

Beim Blick auf die aktuelle Bildungslandschaft sehen wir Maßnahmen, Projekte und Modelle, die den Eindruck erwecken, als hätte sich die ganze „Inklusionierung“ einmal im Kreise gedreht, um innovativ-inklusiv wieder am Ausgangspunkt der Bemühungen anzukommen:

  • Eine Grundschule legt einen Stundenplan vor, in dem am Montag von 12.15 bis 13.00 Uhr Inklusion ausgewiesen ist und stattfinden soll.
  • Der Direktor einer Sekundarschule berichtet stolz, dass er sein Inklusionsproblem organisatorisch löst, indem er alle lernbehinderten Schüler seiner Schule in einer Klasse zusammenfasst. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
  • Eine andere Grundschule präsentiert sich als inklusive Modellschule mit dem genial neuen Konzept für ein Haus der Sprache, in der die Vielfalt aller Schüler ein schulisches Zuhause finden soll. Die Schule besteht aus drei Zügen: es gibt sonderpädagogische Kleinklassen für Sprachbehinderte, selbstverständlich Regelschulklassen und den mehrsprachigen Europazweig (Gymnasium?). Ähnlichkeiten zum früheren, überholten dreigliedrigen Schulsystem sind rein zufällig.
  • 2015 erschien ein neues vielversprechendes Handbuch zur inklusiven Diagnostik. Schon der Blick ins Inhaltsverzeichnis verspricht nichts Neues, sondern viel alten Wein in neuen Schläuchen . Viele namhaften Vertreter der Förderdiagnostik sind hier versammelt und stellen ihre altbekannten Ideen, Methoden und Modelle nun als „inklusive“ Konzepte vor. Bundschuh berichtet von seinen Überlegungen zum Förderplan aus dem Jahre 2007, die schon damals wenig Innovatives enthielten. Frau Häußler frischt den alt bekannten TEACCH-Ansatz aus den 90iger Jahren inklusiv auf. Willmann entdeckt für die Inklusion verhaltensauffälliger Kinder die ebenfalls aus den 1990iger Jahren stammende Kind-Umfeld-Diagnostik neu. Sarimski empfiehlt für die inklusive Frühförderdiagnostik die vertrauten Screeningverfahren zur Sprachentwicklung und zu Vorläuferfertigkeiten für den Schriftspracherwerb. Fischer greift für die Diagnostik im Bereich der Berufsfindung unverblümt auf eigentlich inklusiv geächtete und fast 20 Jahre alte Testverfahren zurück. Von Knebel legt den Etikettenschwindel offen, indem er feststellt, die sich über viele Jahre hinweg als hilfreich erwiesene pädagogische Sprachdiagnostik könne problemlos auch im inklusiven Unterricht eingesetzt werden. Und so weiter, und so weiter …
  • Die Wissenschaft feiert ein neues aus den USA übernommenes theoretisches Modell, das als grundlegend für den inklusiven Unterricht gelten kann: der „Responsive-To-Intervention“-Ansatz; oder kurz RTI. Das inklusive Unterrichten wird in diesem Modell auf drei Ebenen beschrieben. Ein Schüler bleibt in seinem Lernen gegenüber seinen Mitschülern deutlich zurück. Auf Ebene eins registriert die Lehrkraft diesen Lernrückstand und überdenkt ihr Lehrangebot. Sie sucht nach evidenzbasierten alternativen Lehrmethoden und bietet diese selbigem Kind an. Stellt sich nach einigen Wochen der gewünschte Lernerfolg immer noch nicht ein, erhält das Kind auf Ebene zwei zusätzlich zum Unterricht eine evidenzbasierte Förderung in einer kleinen Gruppe oder einzeln. Bleibt diese Förderung nach mehreren Wochen ebenfalls erfolglos, begibt man sich auf Ebene drei und ruft nach dem Sonderpädagogen, der auch an eine Überweisung an eine Sondereinrichtung denken darf. Was um alles in der Welt ist daran inklusiv und neu?

 

Rekontextualisierung

Warum hat sich trotz viel gutem Willen und ernsthaftem Bemühen im Grunde an zahlreichen Stellen nichts wirklich geändert? Warum sind neue, „inklusive“ Denk- und Handlungsansätze den alten zum Verwechseln ähnlich? Warum kommen Studien zu dem Ergebnis, dass nicht die Innovation das System wandelt, sondern das System die Innovation – das somit die Innovation an die bestehenden Gegebenheiten anpasst?

Die Umsetzung der UN-Konvention ist eine gewaltige Herausforderung für unser Bildungssystem und fordert Innovation auf allen Ebenen. Das deutsche mehrgliedrige Bildungssystem steht dem inklusiven diametral gegenüber. Die Diskrepanz zwischen beiden Systemen könnte nicht größer sein. Was passiert nun in einem Schulsystem, auf das eine Innovation trifft, die der bisherigen Systemlogik völlig widerspricht?

Helmut Fend (2006) betrachtet unser Bildungssystem bestehend aus mehreren Ebenen. Da gibt es die Ebene der Politik, die der Verwaltung, der Schulleitung und die der Lehrer und Schüler. Auf jeder Ebene werden die Vorgaben der nächsthöheren Ebene im Lichte der eigenen Realität, der eigenen Möglichkeiten und Bedürfnisse interpretiert und umgesetzt. Die untere Ebene tut also nicht einfach, was die obere von ihr verlangt, sondern sie nutzt die vorhandenen Spielräume und passt die Anforderungen den eigenen Handlungsbedingungen, dem eigenen Kontext an. Rekontextualisierung nennt man diesen Prozess, der besonders befeuert und herausgefordert wird, wenn das völlig neue System praktisch ungebremst auf das alte trifft und vom alten kaum etwas zum neuen passt. Es fehlen Lehrkräfte – die vorhandenen sind fachlich auf einen inklusiven Unterricht nicht vorbereitet. Die Wissenschaft streitet sich, was Inklusion eigentlich ist. Die Didaktik hat keine Unterrichtsmodelle parat. Die Schulgebäude sind nicht behindertengerecht. Aber der Wandel muss zügig voranschreiten, darüber gibt es keine Diskussion, schon gar nicht mit den auf unterster Ebene Betroffenen.

Diese Betrachtungsweise offenbart, dass weder der fehlende gute Wille noch eine ablehnende Haltung bei Schulräten, Schulleitern, Lehrkräften oder Eltern für das Scheitern verantwortlich gemacht werden kann. Im Gegenteil: Mit viel Einsatz und Engagement versuchen alle Beteiligten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Unmögliche möglich zu machen. Und so sorgen die alten Möglichkeiten dafür, dass das Neue dem Alten immer ähnlicher wird. Aktuelle Studien zur Evaluation inklusiver Bildung stützen diese Schlussfolgerung. Lehrkräfte und Eltern sind der inklusiven Schule gegenüber offen und zunächst äußerst positiv gestimmt, beklagen sich jedoch gleichzeitig heftigst über fehlende Ressourcen. Mit zunehmender Inklusionserfahrung nehmen die positiven Einstellungen zur Inklusion ab (Schuck et al. 2018).

Was wir wirklich brauchen wäre eine langfristig Bildungspolitik, die ressourcengestützte und ressourcenschonende Veränderungen mit Augenmaß in die Wege leitet, ohne dabei das große Ziel am Horizont aus den Augen zu verlieren. Sie wäre innovativer als eine, die aufgeschreckt durch jede neue OECD-Statistik das Ruder herumwirft, Schulen und Lehrerbildung eine Dauerreform verordnet bis niemand mehr weiß, was eigentlich Sache ist und sich in bedeutungslosen Kleinkriegen (9 oder 8 oder vielleicht doch wieder 9 Jahre Gymnasium) erschöpft und verausgabt.

 

Literatur:

Amrhein, B. (2016): Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt

Fend, H. (2006): Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Hartmann, E. (2008). Konzeption und Diagnostik von schriftsprachlichen Lernstörungen im Responsiveness-to-Intervention-Modell: eine kritische Würdigung. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, (2), 123–137

Huber, C. und Grosche, M. (2012): Das response-to-intervention-Modell als Grundlage für einen Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, H. 8, 312-322

Schäfer, H. und Rittmeyer, C. (2015): Handbuch Inklusive Diagnostik. Weinheim: Beltz

Schuck, K.D., Rauer, W. und D. Prinz (2018): EiBiSch – Evaluation inklusiver Bildung in Hamburgs Schulen. Quantitative und qualitative Ergebnisse. Münster: Waxmann