Eine inklusive Diagnostik ist logisch nicht denkbar, es kann sie nicht geben. Was es allerdings unbedingt geben muss, ist eine Diagnostik im inklusiven Unterricht. Was die „reine Lehre“ der schulischen Inklusion fordert und behauptet, ist nicht mit den Grundannahmen der pädagogisch-psychologischen Diagnostik vereinbar. Das haben die bisherigen Beiträge gezeigt.

Auf der Suche nach möglichst konkreten und differenzierten Ideen und Konzepten zur Gestaltung eines inklusiven Unterrichtes stößt man in der entsprechenden Fachliteratur auf offensichtlich moderatere Inklusionsvertreter und Inklusionsvertreterinnen und liest bei ihnen erstaunlich viel Vertrautes; auch zur Diagnostik:

  • Für Prengel (2013) verfolgt die Diagnostik im inklusiven Unterricht grundsätzlich andere Ziele als die sonderpädagogische Diagnostik und Schuleingangsdiagnostik; nämlich keine Zuweisung zu bestimmten Einrichtungen, sondern im inklusiven Unterricht werde eine pädagogische Diagnostik gebraucht, die individuelle pädagogische Angebote im binnendifferenzierten Unterricht begründet. Diese pädagogisch-inklusive Diagnostik beantworte die elementaren Fragestellungen nach der Lernausgangslage, nach den nächsten Lernzielen und Lernschritten, nach den Hilfen und nach der Unterstützung beim Gehen dieser nächsten Lernschritte und schließlich nach dem Lernerfolg. Mit dieser Aussage beschreibt Prengel (2013) nichts anderes als das Herzstück sonderpädagogischer Diagnostik, die Förderdiagnostik, so wie sie seit fast 20 Jahren von vielen Autoren und Autorinnen charakterisiert wird (vgl. Breitenbach 2014).

 

  • Weiterhin sei für die Diagnostik im inklusiven Unterricht charakteristisch, dass sie eine in den pädagogischen Alltag eingelassene, die Lernprozesse begleitende kontinuierliche Prozessdiagnostik sei. Das Beobachten und Beurteilen von Lernfortschritten sei Teil des Unterrichts und dürfe nicht nach längeren Zeiten, mit großen Zeitabständen einsetzen, sondern müsse regelmäßig und noch im Lernprozess stattfinden (vgl. Reich 2014). Auch hier wird gefordert, was in der Sonderpädagogik bereits seit geraumer Zeit als Lernverlaufsdiagnostik, Lernfortschrittsmessung, lernprozessbegleitende Diagnostik oder curriculumbasiertes Messen bekannt ist (vgl. Breitenbach 2014).

 

  • Auch im inklusiven Unterricht entsteht bei der Zuteilung zusätzlicher vor allem sonderpädagogischer Ressourcen das Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma. Die Lehrkräfte kommen nicht umhin, Kinder zu etikettieren, zu kategorisieren und mittels Statusdiagnostik sonderpädagogischen Förderbedarf festzustellen.
    Selbst – man lese und staune – Leistungsbewertungen, die Abschlüsse, Zugänge und Aufrücken sichern, also Fragen der Selektion, sind nach Reich (2014) ab einer gewissen Altersstufe weltweit üblich und mit dem Gedanken der Inklusion vereinbar. Selbst die inklusive Schule ereignet sich nicht im gesellschafts- und schulpolitisch luftleeren Raum, sondern muss – wie alle anderen Schulen auch – ihre gesetzlich vorgeschriebene Qualifikations- und Allokationsfunktion erfüllen.

 

Im inklusiven Unterricht stellen sich offensichtlich diagnostische Aufgaben, die bei genauer Betrachtung den alt bekannten und oft beschriebenen Aufgaben in Förderdiagnostik, Statusdiagnostik und Lernprozessdiagnostik zum Verwechseln ähnlich sehen. Einen eindrucksvollen Beleg für die Behauptung, dass die gute alte Förderdiagnostik nun im neuen Gewand der Inklusiven Diagnostik daher kommt, liefert das vor kurzem erschienene „Handbuch Inklusive Diagnostik“, in dem auf 600 Seiten wohlvertraute förderdiagnostische Konzepte, Modelle und Methoden eingesammelt und unter dem neuen Label „Inklusive Diagnostik“ angeboten werden.
Beruhigend ist, dass in der fachlichen Diskussion anscheinend mehr und mehr praxisorientierte Kollegen und Kolleginnen die Lufthoheit über den universitären Schreibtischen und den Klassenzimmern gewinnen und die inklusiven theoretischen Höhenflüge auf dem Boden der Unterrichtspraxis landen. Um allerdings dabei eine Bruchlandung zu verhindern und zu vermeiden, dass der gemeinsamen Unterricht an Regelschulen zu einem dauerhaften Provisorium oder gar zu einem erschreckenden schulpolitischen Experiment mit desaströsen Nebenfolgen wird (vgl. Becker 2015), müssen zweifellos massive zusätzliche personelle und sächliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Das war von den Schulpolitikern, glaubt man Speck (2015), bei der Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes nicht geplant.

 

Dies ist der 6. und letzte Artikel aus unserer Reihe „Inklusive Diagnostik“. Sie finden alle Artikel der Reihe unter diesem Schlagwort oder über folgende Links:

 

 

 

Literatur

Becker, Uwe (2015): Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript.

Breitenbach, Erwin (2014): Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer.

Schäfer, Holger/Rittmeyer, Christel (Hrsg.): Handbuch Inklusive Diagnostik. Weinheim: Beltz.

Prengel, Annedore (2013): Inklusive Bildung in der Primarstufe. Eine wissenschaftliche Expertise des Grundschulverbandes. Frankfurt a.M.: Grundschulverband e.V.

Reich, Kersten (2014): Inklusive Didaktik: Bausteine für eine inklusive Schule. Weinheim: Beltz.

Speck, Otto (2015): Das schulpolitische Inklusionsdilemma in Deutschland. Die Verabschiedung des Inklusionsgesetzes im Deutschen Bundestag und deren Folgen. In: Heilpädagogische Forschung 41, H. 2, S. 62-69.