Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Günther Thomé (isb Oldenburg)

Lesen und nicht verstehen ist,
wie pflügen und nicht säen.
Elly Glinz

Wenn wir lesen, versuchen wir, das Gelesene zu verstehen. Dabei werden die geschriebenen Wörter nach begrifflichen Einheiten mit den Augen abgetastet. Bei den Wörtern „Kinder lesen“ bieten die Wortbausteine KIND und LES die entscheidenden Informationen, die uns sagen, worum es geht. Die Endungen -er und -en werden erst an zweiter Stelle interpretiert und ihr Gehalt ist auch eher zweitrangig. So kann man die beiden Wörter von ihrer Wahrnehmung beim Lesen als

KIND.er und LES.en

umschreiben. Auch weitere Bildungen dieser beiden Wörter werden an ihren Hauptbestandteilen (den Wortstämmen oder Morphemen) erkannt:

KIND.lich, KIND.gemäß, ge.LES.en, LES.er.in usw.

In der deutschen Orthographie ist man seit Jahrhunderten bemüht, durch besondere Schreibungen Wörter, die zu einem gemeinsamen Begriffsfeld gehören, durch ähnlich aussehende Schreibungen als zusammengehörig zu kennzeichnen. So schreibt man abweichend von einer lautgetreuen Verschriftung „Läufer“ und nicht „Leufer“. In der Form

LÄUF.er kann man beim Lesen sofort den Wortstamm LAUF erkennen.

Wollte man derartige Wörter nach Sprechsilben aufteilen und Leseanfängern empfehlen, sich auf diese Weise Wörter zu erschließen, ergäben sich diverse Probleme. Das Wort „kaufen“, bei dem der Wortstamm KAUF mit vielen anderen Wortbausteinen kombiniert werden kann, wird bei silbischer Gliederung zu kau und fen. Hier drängen sich bei der ersten Silbe gedankliche Verbindungen zum Essen auf, bei der zweiten Silbe drängt sich gar nichts auf, höchstens bei entsprechend falscher Aussprache, die Nähe zu einem begeisterten Anhänger, englisch „fan“.
Dagegen ist der Wortbaustein KAUF leicht erkennbar in Formen wie

ge.KAUF.t, ver.KÄUF.er, (ich) KAUF.e .

Nicht nur, dass durch die silbenweise Aufteilung der Wortstamm manchmal in einer Silbe erscheint:

(du) schreibst,

manchmal zerrissen wird:

(wir) schrei.ben,

sondern auch die Aussprache der Vokale läuft bei künstlicher Syllabierung leicht in falsche Bahnen.

Während bei einer morphemweisen Gliederung bei KIND.er der erste Vokal eindeutig kurz zu sprechen ist (weil im Wortstamm zwei Konsonanten folgen und der Vokal in der Endung so gut wie immer ein Schwa ist), sind diese Verhältnisse bei silbisch gegliederter Lesung überhaupt nicht mehr klar. In der Silbe KIN ist der Vokal nach den Regeln der deutschen Orthographie durchaus lang zu sprechen und in der zweiten Silbe DER ebenfalls.

Weil manche Silbendidaktiken keine Phoneme (Sprachlaute) und entsprechend auch keine Grapheme (Schriftzeichen) als kleinste unteilbare Einheiten (aner)kennen, werden schon im frühen Deutschunterricht wegen der behandelten Silbentrennung zusammengesetzte Grapheme zerrissen, wodurch zwangsläufig falsche Lautfolgen entstehen. So werden im Schriftsprachunterricht Wörter nach Schreibsilben aufgeteilt, also nach Regeln aus dem über 100 Jahre alten „Buchdrucker-Duden“.

Wenn Mitte in MIT.TE oder
gehen in GE.HEN unterteilt werden,

entstehen in der Lautform Konsonanten, die nach der gängigen Aussprache des Deutschen nicht vorhanden sind: In Mitte ist das t nicht zweimal zu sprechen und in gehen ist kein h zu sprechen.

Zusammenfassend kann man sagen:

Das sinnerfassende Lesen verläuft über das begriffliche Erkennen der Wörter. Das innere Mitsprechen beim stummen Lesen und das Gliedern in Silben beim lauten Lesen erfolgt automatisch als Folge der richtig erkannten Wortform. Eine Aufteilung des Geschriebenen in Sprechsilben als Methode zum Lesenlernen ist nicht hilfreich und erschwert das Verständnis. Es ist durchaus denkbar, dass der Absturz der Leseleistungen der deutschen Teilnehmergruppen an den IGLU-Studien von Platz 5 im Jahre 2001 auf Platz 21 in 2016 auf jahrelangen silbenorientierten Leseunterricht zurückgeht. Hier wäre dringend weiterer Forschungs- und Handlungsbedarf!