Das Kind rechnet schlecht – also „übt“ es einfach zu wenig? Nein: Üben, das die Irrtümer des Kindes ignoriert und die ihm fehlenden Strategien nicht aufbaut, schadet, anstatt zu nützen. Nur Üben auf Basis von verstandenen sachgemäßen Strategien, im Dienste der Automatisierung, ist hilfreich.

Vom unserem Kollegen Prof. Dr. Michael Gaidoschik aus Österreich.

Wege und Irrwege in der Förderung rechenschwacher Kinder – Irrweg Nummer 2: Üben im Sinne von: Möglichst viele Rechnungen!

Ich kann auch diesen Irrweg nur exemplarisch am Teilbereich „zählendes Rechnen“ darstellen. Was geschieht denn üblicherweise, wenn Kinder noch in der zweiten Schulstufe und oft weit darüber hinaus Rechnungen nur durch Abzählen lösen können? Ich befürchte, dass allzu oft folgendes passiert: Es wird „geübt“, wobei dieses Üben im wesentlichen darin besteht, dass man dem Kind am Nachmittag mehr von jenen Rechnungen vorsetzt, die es schon am Vormittag in der Schule nur durch Abzählen lösen konnte.

Aber was geschieht dann? Die Rechnungen werden wohl auch am Nachmittag nur durch Zählen gelöst – das Kind weiß ja auch gar nicht, wie es anders gehen sollte. Seine Art über Zahlen zu denken wird aber überhaupt nicht thematisiert, daher auch nicht korrigiert, wenn man dem Kind unter dem Titel „Üben!“ Rechnung für Rechnung vorlegt. Also wird es diese Rechungen wieder zählend lösen. Das Kind übt dann aber genau das, was ihm Probleme schafft: das zählende Rechnen.

Nun wird freilich beim Üben manchmal Wert darauf gelegt, dass das Kind die Rechnung „im Kopf“ löst: „Das musst doch schon ohne Finger gehen!“ heißt es dann, je nach Tonlage beschwörend, hoffend, drohend oder vielleicht schon etwas resignierend. Und es geht ja vielleicht sogar „im Kopf“: Man kann nämlich auch weiterzählen, ohne die Finger dabei zu verwenden. Das ist dann zwar viel anstrengender als das Zählen mit Fingerhilfe, aber in einem begrenzten Zahlenbereich durchaus machbar. Nur: Für die weitere mathematische Entwicklung des Kindes bedeutet Zählen ohne Finger dasselbe wie Zählen mit Fingern: Es erschwert bis verunmöglicht das Erkennen quantitativer Zusammenhänge und operativer Beziehungen, es behindert die Entwicklung von dem, was man „Größenvorstellung“ nennt, es steht der Automatisierung der Grundaufgaben dauerhaft im Wege.

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Ein Üben, das in der bloßen Aufblähung der zu bewältigenden Aufgaben besteht und sich nicht darum kümmert, auf welche Weise Kinder diese Aufgaben lösen, ist ein Irrweg. Was auf diese Weise geübt und verfestigt wird, sind genau jene Lösungsstrategien, die dem Kind das mathematische Lernen auf höherer Ebene erschweren bis verunmöglichen.

 

Dieser Artikel ist der zweite Teil einer Reihe. Sie finden außerdem alle Artikel der Reihe wahlweise unter den Schlagworten „Wege“ und „Irrwege“.

 

Autor und Rechteinhaber des obigen Textes: Michael Gaidoschik.