Auf meinen Artikel zum Thema Schlechte Handschrift bei Grundschülern: Schicksal oder hausgemachtes Problem? fragten manche Erzieherinnen und Grundschullehrkräfte, ob Kinder heute denn überhaupt in der Lage wären besser, sauberer, sicherer  zu schreiben, als sie das gemeinhin tun. Manche befürchteten, die beklagte Verschlechterung der Handschrift sei im normalen Kindergarten- und Grundschulalltag keinesfalls zu beheben. Zur Erinnerung: In diesem Artikel hatte ich Schulhefte von Erstklässlern aus den 60er Jahren Schulheften von heutigen Erstklässlern gegenüber gestellt. Die Qualitätsunterschiede waren offensichtlich; genauso wie die Tatsache, dass Schüler vor 50 Jahren bis zu neun Mal soviel pro Jahr geschrieben haben wie heutige Schulkinder. Doch der erlebte Standard ist heute so weit gesunken, dass manche Pädagogen etwas, das lange Zeit einigermaßen normal war, gar nicht mehr für möglich halten. Ich bin zwar der Ansicht, dass dies auch heute mit wenig Aufwand möglich ist, und habe zu diesem Zweck ein systematisches Zeichen- und Schreiblernheft entwickelt, das zu Hause, in Kindergärten und in der 1. Klasse eingesetzt werden kann. (Sie können es hier bestellen).

Aber ob es stimmt, dass eine gute Handschrift für Kinder im 21. Jahrhundert überhaupt erreichbar ist, ist eine sehr wichtige Frage. Denn gute Förderdiagnostik und damit gute Unterrichtsplanung steht und fällt mit einer zutreffenden Einschätzung der Lernausgangslage. Sprich: Wenn man das Leistungsvermögen der Kinder unterschätzt, wird man gar nicht alles aus ihnen herausholen, was sie leisten können. Überschätzt man es, wird man sie überfordern. Die beste Antwort auf die Frage, was Vorschüler und Erstklässler denn feinmotorisch leisten können, findet man im Unterrichtsversuch. Versucht man, mit Vorschulkindern in der Zone der nächsten Entwicklung zu arbeiten (d.h. ihnen das abzuverlangen, was sie gerade noch ohne Hilfe bewältigen können), erfährt man, wo die Grenze zwischen fordern und überfordern liegt. Einen solchen Unterrichtsversuch betreibe ich seit mittlerweile sieben Jahren in meinen Vorschulklassen. Sie werden von zukünftigen Regelschülern sowie auch von Kindern mit leichten Behinderungen besucht, finden einmal pro Woche für 90 Minuten statt und beinhalten 1-2 DinA 5 Seiten schriftliche Hausaufgaben pro Woche. Das Ergebnis ist: Vorschüler können mit einfacher, aber systematischer Anleitung bereits nach wenigen Monaten sauberer schreiben als so mancher Erstklässler. Sie tun das gerne und mit Stolz und gewöhnen sich problemlos an sachliche Kritik, zu der auch gelegentliches Wegradieren gehört. In der ersten Klasse haben sie dadurch den Kopf frei für andere, wichtige Lerninhalte und können in Ruhe über das Nachdenken, was sie schreiben, weil sie nur noch wenig Aufmerksamkeit darauf richten müssen, wie man schreibt.

Da ich auch die schwächsten Kinder aufnehme, die teils zurückgestellt werden, bei denen teils über einen Förderschulbesuch nachgedacht wird, kann man nicht sagen, dass nur Kinder aus besonders engagierten oder gebildeten Familien in diesen Gruppen wären. Das Ergebnis ist nicht durch einen höheren Sozialstatus verzerrt. Ich schreibe das ausdrücklich, da manche Leser vielleicht nicht für möglich halten, dass Vorschulkinder 2012 grundsätzlich immer noch das gleiche leisten können wie Vorschulkinder 1962. Das ist aber definitiv der Fall – man muss es ihnen nur beibringen.

Hier einige ungeschönte Beispiele von starken und schwachen Leistungen:

Sehr gute Leistung; Mädchen, 6 Jahre, nach 10 Kurseinheiten.

 

 

Junge, 6 Jahre, kogn. Förderbedarf, wenig häusliche Förderung, großer Arbeitswille

 

 

Leistung aus dem Mittelfeld, Junge, 6 Jahre.

 

Schwache Leistung, nach 8 Wochen Kursbesuch. Mädchen, 5 Jahre, übt selten

 

„Durchhänger“, Motivationstiefs können immer einmal auftreten, wie folgende Arbeit nach 20 Übungseinheiten zeigt:

Mädchen C, 6 Jahre, Verhaltensstörung, hatte diesmal keine Lust.

Aber bei wöchentlicher Übung kann der Erziehende einschätzen, wozu das Kind grundsätzlich in der Lage wäre. Dann fällt auch die Überwindung des Tiefs leicht. So sieht die Arbeit des selben Mädchens eine Woche später aus:

Mädchen C, eine Woche später

 

Ja, es gibt schwierige Fälle, die viel Übung erfordern. Das betrifft in meinen Gruppen verhaltensgestörte Kinder mehr als Kinder mit einer leichten bis mittleren motorischen Behinderung oder Entwicklungsverzögerung (ein Spastiker wird natürlich andere Schwierigkeiten haben). Hier Hefteinträge eines Buben mit Verhaltensstörungen. Hintergrund: belastet durch Wohlstandsverwahrlosung und widersprüchlich chaotische Erziehung; sehr wenig Übung zu Hause und im offenen Kindergarten; Mutter lehnt Lernziele ab.

Allererster Versuch

 

 

Leistung nach 6 Monaten mit lückenhaftem Kursbesuch

 

Es gibt Kinder, die primär aufgrund einer Verhaltensstörung sowie aus Gründen der Fehlerziehung sehr schwach im Zeichnen und Schreiben sind. Darunter verstehe ich Abweichungen von der Lineatur bzw. Vorlage in mehr als 1/4 der Figuren um mehr als 2mm. Das betrifft bei meinen Gruppen etwa eines von 20 Kindern (ca. 5%). Die Schwierigkeiten, die sich hier stellen, bestehen v.a. in ungelösten Erziehungsaufgaben. Meistens sind das:

  • Die Eltern sorgen nicht für regelmäßige Übungszeiten zu Hause. Das kann viele Gründe haben: Manche überlassen das Üben aus falsch verstandener Erziehung zur „Selbständigkeit“ den Kindern, die aber noch viel zu jung sind, um dafür Verantwortung zu tragen. Andere haben keinen geregelten Tagesablauf, sondern hangeln sich impulsiv durch den Tag; teils wird das ideologisch zum Konzept erklärt, teils suchen betroffene Familien durch Hausbesuche erzieherischen Rat und lassen sich helfen. Wieder andere meiden die Übung, da ihr Kind aufgrund mangelhafter Antriebsbefriedung aggressiv oder selbstmitleidig auf Kritik reagiert und die Eltern mangels Autorität damit nicht umgehen können. Einige Eltern halten nichts von genauem Arbeiten, weil es nicht „frei“ und „kreativ“ genug sei und unterstützen daher die Lernziele nicht. Dann muss alle Übung im Unterricht stattfinden. Bei 90 Minuten pro Woche ist das schwierig; bei einer Klassenleitung in der Primarstufe nicht ganz so sehr.
  • Der Kindergarten sorgt nicht verlässlich für ausreichende feinmotorische Übung. Manche Kinder gehen in offenen Konzepten den Erzieherinnen immer wieder „durch die Lappen“, weil sie zu unverbindlichen Angeboten, die mit Malen, Zeichnen oder Schreiben zu tun haben, einfach nicht erscheinen. Verbietet die pädagogische Auffassung des Kindergartens es den Erzieherinnen, Kinder an gewissen Tätigkeiten verpflichtend teilnehmen zu lassen (was ja durchaus mit Freude und Fröhlichkeit einhergehen kann), dann nehmen in Extremfällen diese Kinder drei bis vier Kindergartenjahre lang fast nie einen Stift in die Hand.
  • Das Kind verweigert alles, womit es sich schwer tut; häufig verbunden mit der Gewohnheit, allem auszuweichen, was es nicht sofort interessiert. Der Grund ist teils mangelnde Antriebsbefriedung; d.h. das Kind ist es nicht gewöhnt, auf die Befriedigung seiner Antriebe und Wünsche auch einmal zu warten oder gar zu verzichten und sich einer sachlichen Verpflichtung unterzuordnen. Teils wurde das Kind auch zu wenig ermutigt, das unangenehme Gefühl, welches jeder Fehler, jede Kritik, jede Tücke des Objekts im Menschen auslöst, auszuhalten und als alltäglich anzunehmen. Diese Ermutigung ist wichtig und kann nur durch einen Erwachsenen geschehen, der selbst begeistert, mitfühlend, aber zugleich auch nüchtern und sachlich ist.

 

Ich bleibe daher bei der Auffassung, dass es vor allem anderen eine Frage der Übung ist, ob ein Kind eine gute Handschrift entwickelt oder nicht. Es ist an uns, auch in einer Gesellschaft, die weniger Wert auf Routine, Meisterschaft und Sorgfalt legt, für solche regelmäßige und fröhliche Übung zu sorgen. Wenn sie stattfindet, lassen sich auch ernstzunehmende Handicaps ausgleichen, wie diese letzten zwei Beispiele zeigen:

Junge Y, 6 Jahre, mit angeborener Muskellähmung

 

Mädchen D, 7 Jahre, aus Osteuropa zugewandert, mit diversen Diagnosen psychischer Störungen

 

 

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