Kürzlich waren wir auf Facebook mit einem harschen Vorwurf konfrontiert, weil wir von Automatisierung durch Üben gesprochen hatten: Angeblich würden wir so dazu auffordern, „Kinder wie Roboter zu programmieren“, anstatt ihnen das wichtige „Rüstzeug fürs Leben“ mitzugeben. Puuuh, harter Tobak. Offenbar gibt es ziemlich krasse Missverständnisse zum Thema Übung und Automatisierung. Zeit, sie zu klären. Das versuche ich heute am Beispiel der Handschrift. Schließlich ist anlässlich unseres neuen Schreibübungshefts das Thema gerade im Trend 😉

Was nützt es also, Lerninhalte wie das Schreiben (oder Vokabeln, das Einmaleins, Konjugationen…) zu üben? Kurz gesagt: Das Ziel von Übungen ist allgemein zunächst Leistungssteigerung pro Zeit, also weniger Fehler pro Seite oder Minute, mehr bearbeitete Aufgaben, größere Sicherheit. Nicht alle Lerninhalte kann man auf diese Art üben. Aber wo es möglich ist, strebt man letztlich die Automatisierung des Lerninhaltes an. Bei Schreibübungen, die auf die Form, nicht die Rechtschreibung abzielen, ist das Ziel das automatisierte Beherrschen der Graphomotorik. Die „Automatisierung“ von Fertigkeiten macht Kinder nicht zu Robotern, sondern ist in Wirklichkeit ein ganz wichtiger Teil des Rüstzeugs, das Schule Menschenkindern mitgeben muss. Einfacher ausgedrückt könnte man sagen: Kinder lernen durch Übung, die Schreibbewegungen mühelos und sicher zu planen, geschickt auszuführen und fortlaufend zu kontrollieren.

Warum das wichtig ist, zeigt folgendes Beispiel: Ein Fußballer, der in Ballbesitz ist, hat viel zu tun. Er muss mit dem Ball laufen. Er muss überblicken, wo welcher Gegner läuft und kalkulieren, wann der ihn erreicht haben wird. Er muss einschätzen, welche Mitspieler frei sind und zu welchem er abspielen soll, um die beste Torchance zu bekommen. Dafür muss er die nächsten möglichen Spielzüge dieses Mitspielers blitzschnell erwägen. Wenn der Fußballer in dieser Situation noch überlegt, wo der Ball überhaupt ist, mit welchem Teil des Fußes er ihn berühren soll und wie er sein Bein beugt oder streckt, hat er keine Chance. Das muss ein guter Fußballer aber auch nicht, denn er hat die nötigen Bewegungsabläufe tausendfach geübt. Sie sind „automatisiert“, d.h. sie laufen ohne bewusstes Nachdenken zuverlässig und zweckmäßig ab. So wird durch fleißiges Üben aus dem Anfänger ein kompetenter Spieler und vielleicht ein gut gerüsteter Profi. Weil er über  die Bewegungsabläufe nicht bewusst nachdenken muss, kann er seine geistigen Kapazitäten verwenden, um die Spieltaktik zu planen. Genauso verhält es sich mit dem Schreiben: Nur, wer die Schreibbewegungen automatisiert hat, hat den Kopf frei, um über alles weitere nachzudenken, was für das Schreiben nötig ist.

Und das ist eine Menge:

Wenn ein Schüler den Satz „Kinder treffen sich vor der Schule und freuen sich auf den Besuch im Zoo“ flüssig schreiben kann, geht in seinem Gehirn ganz vieles vor:

Schreibvorgang, aus: Mahrhofer 2004, 61

Im Beispiel ist der Schüler gerade beim Wort „und“. Er muss sogleich den ersten Bogen des „u“ ausführen (muskuläre Umsetzung), den richtigen Abstand zum nächsten Zeichen halten (Parametersetzung), die folgenden Buchstaben auswählen und die dazugehörige Bewegung planen, für das nächste Wort die richtige Schreibweise denken („eu“, nicht „äu“ etc.) und sich zugleich den Rest des Satzes merken. Dies gelingt alles nur mit einer möglichst perfekt automatisierten Schreibtechnik. Wer noch bewusst auf den Schreibvorgang (in der Graphik: die muskuläre Umsetzung und Parametersetzung) achten muss, kann die korrekte Rechtschreibung nicht beachten und sich den Rest des Textes nicht gut merken.

Ein extremes Beispiel musste ich vor einigen Jahren in meiner Beratungspraxis erleben: Ein Junge mit einem IQ von 152 kam zu mir, weil er in der 6. Klasse des Gymnasiums in Latein und Englisch mit den Noten 5 und 6 nicht vorrücken konnte. Als Grund dafür stellte sich heraus, dass die Eltern jede Form von Übung und Automatisierung ablehnten. Das Vokabellernen sei quasi unter der Würde eines hochbegabten Kindes, Deklination und Konjugation zu üben sei nicht entdeckend und kreativ genug für ein so kluges Kind. Die Zeit des Jungen war daher ausgefüllt mit Kinder-Uni, Ferienkursen in Physik und ähnlichem; er verstand durchaus viele Themen aus deutlich höheren Jahrgangsstufen – im Prinzip. Nur fehlte ihm auf Dauer das Rüstzeug, um aus dieser Begabung etwas zu machen. Weder eine nüchterne Arbeitshaltung, noch das inhaltliche Material für größere Erkenntnis stand ihm zur Verfügung, solange man ihm die nötige Übung vorenthielt. Egal wie talentiert man ist – ohne Übung geht es nicht; und erst durch Automatisierung werden die Ressourcen frei, die einen auf Basis dieses soliden Wissens und Könnens Großes vollbringen lassen. Das gilt im Fußball genauso wie in der Schule.

Was ist nun mit dem Vorwurf, Fehler zur Förderplanung zu betrachten und die richtige Umsetzung zu üben, erzeuge Roboter – im vermeintlichen Gegensatz zum „Rüstzeug für das Leben“? Lesen und Schreiben sind gehören zum wichtigsten Rüstzeug fürs Leben, das wir in der Schule lernen. Ohne Automatisierung wird aber nichts Rechtes daraus. Schnelles Lesen ist die Voraussetzung dafür, auch mal mit dem Köpfen anderer zu denken und den eigenen Horizont nennenswert zu erweitern. Schnelles Schreiben ist die Voraussetzung dafür, klare Gedanken dauerhaft notieren zu können und anderen wertvolle Botschaften zu schicken. Beides zeichnet den Menschen aus, setzt aber Automatisierung voraus. Man könnte daher fast sagen, Automatisierung sei ein Menschenrecht… 😉

Literatur: Mahrhofer, Christina (2004): Schreibenlernen mit graphomotorisch vereinfachten Schreibvorgaben. Eine experimentelle Studie zum Erwerb der verbundenen Ausgangsschrift in der 1. und 2. Jahr- gangsstufe. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. 

 

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